Erinnerung an den Konsumterror

■ Wie die Liebesblicke der Waren bei Hertie in Berlin-Kreuzberg die Kunden verfehlten

Am 12. 3. 99 hat Hertie am Halleschen Tor, das einzige größere Kaufhaus des mittleren Warenbedarfs im Berliner Bezirk Kreuzberg, dichtgemacht. Im Herbst 1898 war der Grundstein für das Kaufhaus gelegt worden, das im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört und 1952 wieder aufgebaut worden war. Oskar Tietz hatte seine Kaufhaus-Dynastie mit einem Darlehen seines Onkels Hermann begründet. Anfangs hießen seine Häuser noch „Hermann Tietz“, 1933 machten die Nazis „Hertie“ daraus. Hertie fusionierte 1994 mit Karstadt, dem einzigen Kaufhauskonzern, dessen Gründer keine Juden waren. Eigentlich hatte man im letzten Spätsommer den 100. Geburtstag des elegant käseecken-gerundeten Hauses mit Verlosungen und einer Fotoausstellung zur Firmengeschichte feiern wollen. Dazu kam es nicht, weil die Schließungsabsicht bekanntgeworden war. Von den ehemals 140 Kaufhausangestellten wurden dann 100 entlassen.

Hertie am Halleschen Tor ist das sechste Berliner Kaufhaus, das der Karstadt-Hertie-Konzern in den letzten Jahren geschlossen hat. Der Konzern hatte übrigens 1997 bei rückläufigem Umsatz seinen Jahresüberschuß von 58,6 Millionen Mark auf 164 Millionen Mark fast verdreifacht.

In der Nacht vom 18. auf den 19. September 1997 klirrte es bei Hertie. Die Polizei sprach von fünf bis sechs Personen, die kurz nach Mitternacht 39 Scheiben zertrümmerten. „Wir verstehen dies als Aktion gegen die staatlichen Versuche, die Morde in Stammheim engültig ad acta zu legen und den bewaffneten sowie militanten Kampf zu diskreditieren“, hieß es im Bekennerschreiben. Mit ihrer Aktion wollten sie symbolisch an frühe RAF-Geschichten anknüpfen. Denn „Andreas und Gudrun wurden wegen einer Kaufhausbrandstiftung verurteilt, mit der sie gegen Konsumterror auf der einen, Verelendung und Vietnamkrieg auf der anderen Seite protestieren wollten.“ Warum auch mehrere Telefonzellen in der Nähe des Kaufhauses kaputtgemacht wurden, stand nicht in dem Bekennerbrief. Vielleicht aus Spaß, vielleicht ging es auch gegen den Kommunikationsterror, der die Menschen zu Gesprächsteilnehmern herabwürdigt.

Ob das hölzerne Taubenhaus ein paar Meter vor Hertie auch im Gedenken an die RAF niedergebrannt wurde, ist nicht bekannt. Inzwischen weiß ich nicht mehr so genau, was unter „Konsumterror“ zu verstehen ist, auch wenn mir der Gedanke durchaus geläufig ist: Eine menschenfeindliche Ideologie und ihre ausbeuterischen Vertreter reden einem ein, daß das Kaufen von Konsumgütern zu Glück führt. Anstatt einen zu befreien, versklaven einen die Dinge usw. usf. Da fällt mir ein Witz ein: Geht ein Auto in ein Autohaus und möchte zwei Autos kaufen. Sagt der Verkäufer: „Nehmen Sie doch gleich vier. Dann haben Sie zwei mehr.“

Mir kommt der sogenannte Konsumterror oft ausgedacht vor. Und bei Hertie, dem Warenhaus, in dem ich mehr als zehn Jahre lang einkaufen gegangen war, gab es eigentlich kaum Dinge, die mir den Wunsch eingeflößt hatten, sie nun unbedingt besitzen zu wollen. Nicht, daß es unter den Waren nicht vieles gegeben hätte, was ich hätte gebrauchen können. Nur: die Dinge machten nicht so richtig auf sich aufmerksam. Zu lieblos war alles arrangiert. Die Dinge schauten mürrisch drein. Dementsprechend kaufte man oft mit einem Gefühl von Genervt- und Angeödetsein. Man sagte sich: „Nun geh' ich mal irgendwas kaufen.“ Nur einmal in zehn Jahren hatte ich das Gefühl, der Verkäufer freute sich darüber, daß ich was kaufte: einen Teppich im SSV, der von 869 auf 649 Mark heruntergesetzt worden war.

Trotzdem war Hertie ein integraler Bestandteil meiner Lebenswelt. Wenn auf der Straße nichts los ist, ist das Kaufhaus der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Früher hatte Hertie am Samstag bis 14 Uhr auf, also eine Stunde länger als die anderen. Alle, die am Freitag lange unterwegs gewesen waren, trafen sich – noch leicht zittrig von der letzten Nacht, aber guter Dinge – zwischen 13.30 und 14 Uhr bei Hertie. Man aß dann ein halbes Hähnchen mit Ketchup mit Fingern in der Lebensmittelabteilung und rauchte einen mit den Punks, die vor Hertie saßen und irgendwann vertrieben wurden, mutmaßlich von den Werbern der Berliner Zeitung, bei denen es Umsonst-Abos gab. Oft war ich auch in der Abenddämmerung bei Hertie und machte Impulskäufe: u.a. Gardinen, Fernseher und Boxershorts. Später, als die Samstagsladenöffnungszeiten verlängert worden waren – was nicht zu Neueinstellungen geführt hatte, wie mir eine Verkäuferin versicherte –, ging man erst zu Hertie und dann Tischtennis spielen mit Tischtennisschlägern von Hertie und Bundesligaradioübertragung.

Hertie am Halleschen Tor verabschiedete sich würdelos von seinen Kunden. Öffentlichen Protest hatte es kaum gegeben, auch wenn alle und der Kreuzberger Bürgermeister dagegen waren. Drei Monate lang gab es Ausverkauf. Doch die Sonderangebote waren nicht der Rede wert. Eher eine Beleidigung für treue Kunden. 30 Prozent kann jeder. Die letzten Tage sah die erste Etage aus wie eine Müllhalde. Anstatt, wie monatelang angekündigt, am 13., schloß das Kaufhaus ohne Abschiedswort schon am 12.3. Detlef Kuhlbrodt