Kollektive Verstocktheiten

Von metaphysischer Vaterlandsverzweiflung und moralischem Herkunftsekel: W.G. Sebalds jetzt in Buchform vorliegende Ausführungen zum Luftkrieg und den Versäumnissen der Literatur als Nachstück zu Goldhagen. Sie zeigen den Apokalyptiker als Idylliker  ■ Von Erhard Schütz

Dem in England lehrenden Literaturwissenschaftler und Schriftsteller W.G. Sebald ist eine der eigentümlichsten Debatten der letzten Jahre zu verdanken. Als er im späten Herbst 1997 in Zürich Vorlesungen über Luftkrieg und Literatur hielt, haben einige Zeitungen darüber berichtet. Im Spiegel hat das sogar ein paar Leserbriefe gezeitigt. So recht wußte man aber dennoch nicht, welche Bedeutung der Feststellung beigemessen werden sollte, die deutschen Schriftsteller hätten in der Vergangenheit das Thema Luftkrieg sträflich vernachlässigt. Das Thema war zudem gar nicht der Luftkrieg: nicht die Bomben der Legion Condor auf Spanien, nicht die schlagernotorischen „Bomben auf Engeland“, noch viel weniger die auf Polen oder die Sowjetunion. Auch nicht V1/V2 – dafür haben wir ja Thomas Pynchon.

Vielmehr ging es um alliierte Angriffe auf deutsche Städte und deren Wirkungen: 600.000 deutsche Zivilisten getötet, dreieinhalb Millionen Wohnungen zerstört, siebeneinhalb Millionen Menschen bei Kriegsende obdachlos. Wenn man jetzt bei Sebald selbst nachlesen kann, „daß die in den letzten Kriegsjahren von Millionen gemachte Erfahrung einer nationalen Erniedrigung sondergleichen nie wirklich in Worte gefaßt und (...) an die später Geborenen weitergegeben worden ist“, dann scheint die Thematik nicht nur einen nationalfeuilletonistischen Zungenschlag zu haben, sondern auch noch auf eine für einen Literaturwissenschaftler etwas eingeschränkte Vorstellung von den Aufgaben und Möglichkeiten von Literatur zu deuten. Entsprechend könnte man vorhersagen, daß eines Tages der ausgebliebene Roman über das Waldsterben und den gleichzeitigen Niedergang von Deutscher Bahn und Sozialdemokratie eingeklagt werden wird. Wenn denn überhaupt noch jemand – außer einige Literaturkritiker – von der Literatur archivalische Speicherfunktionen erwartete.

Das erschütterte Vertrauen in Literatur

Doch damit würde man Sebalds Hinweisen und Folgerungen nicht gerecht. Vielmehr muß man seine Überlegungen lesen als späte Erschütterung ursprünglichen Vertrauens zur Literatur und mehr noch: zu ihren Autoren. Von daher gewinnt seine polemische Auseinandersetzung mit Alfred Andersch, die ansonsten wie ein Fremdkörper scheinen muß, der lediglich das Büchelchen zum Büchlein aufpolstert, ihre Funktion: Es ist die Abrechnung mit einem Autor, bei dem der großartige moralische, politische und avantgardistische Anspruch im nachhinein sich als opportunistische Ruhmrederei eines ehrgeizigen Feiglings entpuppte. Alfred Anderschs Frage abgewandelt: Schützt Schreiben denn vor gar nichts?

Hierzu gehört dann auch die bittere Feststellung, daß den in Deutschland gebliebenen Autoren fast durchweg „die Redefinition ihres Selbstverständnisses“ dringlicher war als „die Darstellung der realen Verhältnisse, die sie umgaben“. Die Probe wird an der Darstellung der Schrecken des Luftkrieges genommen. Nur wenige Texte fanden sich dazu: Heinrich Bölls „Der Engel schwieg“, damals geschrieben, aber erst postum veröffentlicht, Hans Erich Nossacks „Der Untergang“, Arno Schmidts „Aus dem Leben eines Fauns“, Peter de Mendelssohns „Die Kathedrale“, Alexander Kluges „Der Luftangriff“ auf Halberstadt, 1972 erschienen, indirekt noch Hermann Kasacks „Die Stadt hinter dem Strom“ und dazu Gert Ledigs „Die Vergeltung“. Von ihnen können, so meint Sebald, neben Nossack, allenfalls Böll und Kluge bestehen, weil sie sich faktographisch orientieren. Mendelssohn liefert Sekundärkitsch, Schmidt „linguistische Laubsägearbeit“, Kasack metaphysischen Schwindel weithin im „Code der faschistischen Gedankenwelt“. Wie die deutsche Wehrmacht zuvor nicht sauber geblieben ist, hat auch die deutsche Autorenschaft danach versagt. Und damit kommt der zweite Aspekt in den Blick: Sebalds Buch ist ein Nachstück zu Goldhagen.

Die Reinszenierung des Schreckens

Der kollektiven Schuld bei diesem folgt hier die kollektive Verstocktheit danach. „Die in der Geschichte bis dahin einzigartige Vernichtungsaktion“ – eine Formulierung, die die anderen zu einzigartigen Vernichtern und uns zu einzigartigen Opfern macht – habe kaum eine Schmerzens- und Erinnerungsspur hinterlassen. Das Fehlen jeglicher Verstörung deute auf perfekte Verdrängung. Die Zerstörung erschien nicht als „das grauenvolle Ende einer kollektiven Aberration“, sondern als „die erste Stufe des erfolgreichen Wiederaufbaus“.

Oder aber das stoische Verhalten und die fehlende Klage gegenüber den Siegermächten wäre Indiz, daß der „Wahnsinn“ der Bombennächte „als eine gerechte Strafe“ empfunden wurde. Wie Goldhagen ist Sebald genötigt, den Schrecken zu reinszenieren. Er tut das, gestützt auf Nossack, exemplarisch am Hamburger Feuersturm Sommer 1943. Über Seiten entwirft er ein Szenario von Grauen über Grauen. Am Ende fragt er: „Wie lange hätte es wohl gedauert, wenn wirklich der Morgenthau-Plan sich durchgesetzt hätte, bis überall im Land die Ruinengebirge überwaldet gewesen wären?“ Abgesehen davon, daß es den Morgenthau-Plan so gar nicht gab, bricht hier der Idylliker im Apokalyptiker durch. Seinerseits eine Vision der Rache und nicht minder fatal deutsch wie die vermeintlich abgebrühte Sachlichkeit und Ungerührtheit: die Rückkehr der unberührten Natur.

Was Sebald an Reaktionen auf seine Vorlesung und die Berichterstattung darüber anführt, ist schlimm genug, doch bestärkt es nicht schon seine Position. Vielerlei wäre zur Kontextuierung der vermeintlichen Gründe metaphysischer Vaterlandsverzweiflung und moralischen Herkunftsekels anzumerken, differenzierend oder einwendend. Man könnte darauf hinweisen, daß die Autoren meist nicht dort waren, wo die Städte brannten, sondern in der bayerischen Luftschutzecke des Reiches. Man denke nur an Wolfgang Koeppen, der daraus noch eine erfolgreiche Mystifikation von Abtauchen und angeblichem Werkverlust gemacht hat. Man könnte bedenken, daß die Begegnung mit den Tieffliegern nachhaltiger im Gedächtnis blieb, weil das kein kollektiv erfahrener Schock war, sondern als eine persönliche Attacke erlebt wurde. Spuren davon finden sich zum Beispiel bei Peter Schneider oder Bernward Vesper.

Vor allem aber müßte man gründlicher anthropologisch und historisch fragen, wie immer man sich dann entschiede. Anthropologisch könnte man anführen, daß offenbar nur ein bestimmtes Maß an Grauen aufgenommen werden kann. Psychologisch, daß die Verarbeitungen nicht unbedingt dort stattfinden, wo die Traumatisierung geschah. (Es wäre zwar widerwärtig, aber es könnte sein, daß die gezeigte Reue angesichts der Greuel in den KZs eher Selbstmitleid über Bombenkrieg oder Vertreibung war.)

Die Kehrseite der Flugbegeisterung

Historisch wäre zu bedenken, daß die Luftangriffe wie ihre Wahrnehmung die Kehrseite einer geradezu kollektiven Flugbegeisterung waren, dadurch geschürt, daß die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Luftentwicklung beschnitten hatten. In Peter Fritzsches „A Nation of Fliers“ (1992) kann man davon lesen. Vor allem kann man, wenn man sich mit dem Dritten Reich befaßt, erkennen, wie sehr der Luftkrieg und seine möglichen katastrophalen Folgen schon vor den tatsächlichen Bombenangriffen ins kollektive Bewußtsein gebleut wurden. Zeitungen, Radio und Kino, sogar Romane wurden dazu eingesetzt. Luftschutzübungen fanden bereits Anfang der Dreißiger statt. Der Luftschutzbund hatte acht Millionen Mitglieder! Man war vorbereitet – soweit man sich auf Entsetzen vorbereiten konnte. Oder wollte. Und darum wurden die Folgen des Bombenkriegs nicht als Strafe für die eigene, verbrecherische Hybris, sondern als Strafe für die nicht ernstgenommenen Hausaufgaben empfunden. Hinzu kam der Solidarisierungsdruck angesichts der Ohnmacht und mangelnden Möglichkeiten zur Änderung der Verhältnisse, was auch die Alliierten wußten – und dennoch ihr Geschäft weiter betrieben. Es klingt gewiß etwas zynisch, aber man bombte die Deutschen zur Volksgemeinschaft.

Sieht man vom Dokumentarischen ab, dann hat zur Darstellung von Unfaßlichem das Elliptische, die bewußte Aussparung, nachhaltigste Wirkung. Darum ist Kazuo Ishiguros „Damals in Nagasaki“ so bemerkenswert, darum ist Hans Ulrich Treichels „Der Verlorene“ ein so beeindruckendes Buch zu Flucht und Vertreibung. Der Melancholiker mag der Medusa ins Antlitz sehen, versteinern und so zum Zeugnis von deren übermächtiger Gewalt werden. Perseus hat sie, gespiegelt in seinem Schild, beobachtet und ihr dann den Kopf abgeschlagen.

W.G. Sebald: „Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch“. Hanser Verlag, München 1999, 167 Seiten, 34 DM