Rußland im Taumel des Wir-Gefühls

■ Die Nato-Angriffe heizen in Rußland die antiwestliche Stimmung an. Manch einer glaubt schon an eine neue identitätsstiftende russische Idee. Profit ziehen aus dieser Situation in erster Linie Kommunisten

„Es gibt keine Anhänger des einen oder anderen Vereins mehr“, jubelte ein Fan des Moskauer Fußballclubs Spartak ein wenig unbeholfen, als seine Horde vor der US- Botschaft in Moskau mit den notorischen Rowdys des Lokalrivalen ZSKA zu einer Demonstration verschmolz. „Wir sind solidarisch, jetzt gibt es nur noch Russen und Amerikaner.“ Bis dato unvorstellbar. Dergleichen hatte Moskau noch nie erlebt. Seit den Nato- Luftangriffen auf Jugoslawien überzieht eine Welle des Wir-Gefühls das Land und erstickt so manchen nüchternen Gedanken.

Der Bombenhagel zwang selbst die zerstrittene politische Elite des Landes, interne Hader erst einmal auszusetzen. Am Wochenende hatte die Duma in einer Resolution die Angriffe auf Serbien strikt verurteilt: Inzwischen gäbe es „keine Garantien mehr, daß nicht auch andere Länder Opfer des staatlichen Terrorismus seitens der Nato“ würden. Den Passus unterzeichneten alle Fraktionen. Zuvor hatte Außenminister Igor Iwanow Heißspornen und fette Zeiten witternden Militärs in der Duma ins Gewissen geredet: „Wenn jemand glaubt, Rußland lasse sich in den Krieg hineinziehen, hat er sich getäuscht.“ Die Warnung galt der West- wie der Heimatfront gleichermaßen. Danach feierte Iwanow das Dokument als einen Beleg „der Einigkeit, der die russische Position im Kampf gegen die Aggression stärkt“.

Inzwischen versucht Premier Primakow in Belgrad daraus Nägel mit Köpfen zu machen. Vizepremier und Kommunist Gennadi Kulik frohlockte denn auch: Der Widerstand gegen die Nato, das sei die nationale Idee, die Rußland in den letzten Jahren gefehlt hätte. Legt sich die Empörung, dürften viele Russen mit den isolationistischen und totalitären Konsequenzen, die dieser Idee beiwohnen, nicht einverstanden sein.

Noch zelebriert das Land die Wonnen der Gemeinschaftlichkeit. Was die rotbraunen Kommunisten und Chauvinisten nicht einmal nach der Rubelkrise im August schafften, erledigte die westliche Gemeinschaft in einem Luftstreich. Bedrohung von außen, mag sie auch fiktiv oder selbstverschuldet sein, ruft in diesem sonst amorphen und antriebsschwachen Land titanische Kräfte und Entbehrungsfähigkeiten wach.

In russischer Wahrnehmung ist die Bedrohung real. Das orthodox- gläubige Serbien verkörpert etwas anderes als Saddam Hussein. Serbien ist der einzige slawische Staat außer Weißrußland, den es nicht in die Nato zieht, die Moskau durch die Osterweiterung zu verstehen gab, wo die zivilisatorische Demarkationslinie zu Europa verläuft.

Wladimir Schirinowskis chauvinistische Liberaldemokratische Partei – ein Sammelbecken krimineller und marginalisierter Individuen – hatte die Hoffnung, bei den Wahlen im Dezember wieder in die Duma einzuziehen, schon aufgegeben. Nun erlebt sie eine sagenhafte Auferstehung. Gennadi Sjuganows Kommunisten, die verzweifelt nach einer massenwirksamen Strategie Ausschau hielten, können inzwischen aufatmen. Ihre antiamerikanischen Slogans erweisen sich in den Augen einfacher gestrickter Russen am Ende doch nicht nur als bloße Propaganda.

Immerhin hat die westliche Gemeinschaft internationale Spielregeln verletzt und die einstige Supermacht wie einen verstoßenen Sohn behandelt. Das müssen selbst in Rußland verschriene „Westler“ wie Jegor Gaidar, Boris Nemzow und Anatoli Tschubais zugeben.

Die Motive des einzelnen, sich dem antiwestlichen Protest anzuschließen, stammen aus unterschiedlichen Quellen. Die „slawische Bruderschaft“ erfüllt nur die Funktion des gemeinsamen idealistischen Nenners. Er ist ein Mythos – historisch besehen –, zugegeben. Aber er schickt sich an, materielle Kraft anzunehmen. Die einen wollen den Verlust des Imperiums nicht verarbeiten, andere fürchten eine neue Isolation, die Rußland in die Rolle des Gegners treibt.

Junge Studenten, die in Moskau vor der US-Botschaft seit Tagen ausharren, sehen in den USA einen übermächtigen Aggressor, der einem kleinen Volk seinen Willen aufzwingt. Zweifelsohne hat das national überzüchtete russische Bildungssystem in ihren Köpfen einiges Unheil angerichtet. Die Amerikaner besetzen in den Vorstellungen vieler Russen eher den Part einer tumben und kulturlosen Masse. Das hält die Studenten nicht davon ab, Jeans zu tragen und Big Macs zu verdrücken.

Weitaus empfänglicher sind Jugendliche und Arbeitslose, denen die Perspektive fehlt. Sie gehörten zu den ersten, die den Aufrufen Schirinowskis und Sjuganows folgten, sich in die Freiwilligenlisten für Serbien eintragen zu lassen. Oftmals bewegen sie sich schon im Umkreis rechtsradikaler Organisationen, wie der „Pamjat“ oder der „Schwarzhundertschaft“, die schon im Bosnienkrieg auf seiten der Serben kämpften. Diese offen faschistische Formation knüpft bewußt an ihre antisemitischen Wurzeln in der Zarenzeit an.

In Tula, einer Hochburg der Rüstungsindustrie, zweihundert Kilometer südlich von Moskau, verzeichnete das Aushebungsbüro am Tag nach dem ersten Bombardement „einen Andrang wie seit 1941 nicht mehr“. Auch Schirinowskis Moskauer Parteizentrale meldet Rekordziffern. Allein an einem Tag gingen in dem Büro 2.700 telefonische Anfragen ein. Ein wenig aufgerundet haben die Parteiaktivisten sicherlich, das verfälscht aber nicht die allgemeine Stimmung. Für den Abtransport „qualifizierten“ sich bisher erst an die zweihundert.

Unter den Bewerbern bei der LDPR fehlen Spezialisten, die Jugoslawien vor allem braucht. Piloten und Fachkräfte der Luftabwehr. Angeblich fühlen die sich besser bei den Kommunisten und der ihnen nahestehenden Organisation „Duchownoje Nasledie“ (geistiges Vermächtnis) aufgehoben. Kommunisten und Nationalisten sind bemüht, sich in patriotischer Aufrichtigkeit zu überbieten, ziehen aber an einem Strang.

Über den Krieg in Serbien wittern sie eine Chance, die politische Verfaßtheit Rußlands zurückzudrehen. Wodurch sie das ersetzen wollen, ist kein Geheimnis: eine abgeschottete Kriegs- und Kommandowirtschaft nach bekanntem Muster. Vielen Russen sind die verheerenden Langzeitfolgen nicht bewußt.

Sogar die orthodoxe Kirche schaltete sich lautstark in die politische Auseinandersetzung ein. Die Geistlichkeit hält jetzt endlich ihre Stunde für gekommen: „Nackte politische und wirtschaftliche Nötigung haben westliche Staaten in den letzten Jahren verübt, damit man ihren Interessen dient... Nun haben wir es mit einem Versuch zu tun, dem Volk gewaltsam einen fremden Willen zu oktroyieren...“, lautete die Botschaft von Patriarch Alexej II. Klaus-Helge Donath, Moskau