„Ich hoffe, daß niemand klopft“

Während Nato-Jäger tief über Priština fliegen, durchkämmen Serben die Häuser. Ein Mann versteckt sich in fremden Wohnungen. Viele Freunde sind schon abgeholt worden  ■ Brief aus Priština*

Die Nato-Jäger flogen Sonntag nacht schon tiefer, und jeder wurde vom Boden aus mit Luftabwehrfeuer begrüßt. Draußen auf der Straße hörte ich Fluchen. Verflucht wurden die Albaner, die Nato, die Amerikaner, die Briten, Clinton, Blair, die Muslime – kurz jeder, der nicht Serbe war.

Gegen 10 Uhr abends hörte ich schwere Stiefel auf der Treppe des Hauses, in dem ich mich gerade aufhalte (seit einer Woche schlafe ich nicht mehr zu Hause). Dann hörte ich, wie nebenan an die Tür geklopft wurde. Jetzt ist es soweit, dachte ich, jetzt kommen sie. Seltsam, wie ruhig man im Angesicht der Gefahr ist. Sonst war ich halb wahnsinnig vor Angst, wenn ich einen Polizisten oder bewaffneten Zivilisten sah. Sonntag nacht aber war es völlig anders. Ich blieb ganz ruhig. Ich wartete, und ich dachte, das Schlimmste, das passieren kann, ist, daß sie mich umbringen. Also kann mich nichts überraschen. Meine Entscheidung war klar. Ich werde meine Identität nicht verbergen, werde meine Muttersprache sprechen. Albanisch natürlich.

Dann hörte ich wieder die schweren Schritte. Diesmal verklangen sie treppabwärts. Niemand klopfte an meine Tür. Ich wollte aber wissen, was vorging, also lugte ich zur Tür hinaus. Ich sah einen Mann, mit dem ich schon mal geredet hatte. Vor einer Woche war ich ihm auf der Straße begegnet. Wir hatten ein paar Worte gewechselt und über – na, worüber schon? – die politische Lage gesprochen. Wir hatten uns auf Serbisch unterhalten. Er schien sehr aufgeschlossen zu sein, sehr – wie soll ich sagen – „normal“. Nachher dachte ich: Man kann nie eine ganze Nation ihrer Politiker wegen verurteilen. Es gibt immer auch anständige Leute.

Das dachte ich letzte Woche. Am Sonntag abend auf der Treppe trug dieser Mann eine seltsame Uniform – weder Polizei noch Militär. Sein Freund, an dessen Tür er geklopft und den er abgeholt hatte, trug auch so eine Uniform. Und bewaffnet waren sie. Da gingen sie hin, offenbar in der Absicht, mindestens einen Albaner umzubringen oder jemandes Haus anzuzünden. Ich werde eine neue Bleibe finden müssen. Diesem Mann möchte ich nicht wieder über den Weg laufen.

Noch vor ein paar Tagen hatte ich Mitleid mit den Albanern auf den Dörfern bei dem Gedanken an alles, was sie durchmachen. Dafür habe ich keine Zeit mehr, jetzt kämpfe ich um mein eigenes Überleben. Ich versuche, am Leben zu bleiben, mich so normal wie möglich zu verhalten – was nicht ganz einfach ist.

Am nächsten Morgen lief ich nach Hause, um nach meinen Eltern zu sehen. Vor Atemlosigkeit brach ich fast zusammen. Seit es keine Telefonverbindungen mehr gibt, kann ich nach einer anderswo verbrachten Nacht nur so nach ihnen sehen. Jedesmal, wenn ich meinen Vater und meine Mutter zum Abschied küsse, habe ich dieses furchtbare Gefühl, daß ich sie nie wiedersehen könnte.

Freitag lief ich an meinem Lieblings-Café vorbei – dort wo ich mich mit meinen Freunden zu treffen pflegte. Seit Jahren trafen wir uns hier, um zu plaudern. Wir standen einander alle so nahe, daß nie unbemerkt blieb, wenn man mal einen Nachmittag nicht auftauchte, fragte sich jeder, wo man geblieben sei. Jetzt ist es zerstört, sogar die Stühle fehlen. Es sieht nicht mal mehr nach einem Café aus. Inmitten der Ruinen standen fünf Polizisten und betranken sich mit Whiskey. Es ist lächerlich, jetzt Gedanken an ein Café zu verschwenden, für mich aber sind das so viele Erinnerungen.

Gott weiß, ob und wann wir uns alle wiedersehen. Wie viele Freunde sind vermißt. Die Telefonverbindungen zu den Häusern der Albaner sind abgeschnitten. Die Stadt ist von Polizei und bewaffneten Zivilisten aufgeteilt. Jede Kommunikation ist abgeschnitten, man kann sich nicht bewegen. Im Moment kann ich weiter nichts tun, als mich der Namen meiner Freunde zu erinnern. Ich versuche mir, ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen. Es gelingt mir nicht. Die einzigen Gesichter, an die ich mich erinnere, sind die erschreckenden Mienen der Bewaffneten in den Straßen.

Wir haben diese Nato-Angriffe herbeigesehnt. Letztes Jahr haben wir darum demonstriert. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß die heranjagenden Flugzeuge mich derart erschrecken würden. Es sind nicht die Bombenangriffe, die ich fürchte. Es sind die Konsequenzen am Boden, daß es weitere Morde geben wird.

Gestern abend habe ich mich erstmals gefreut. Das war, als ich sah, wie das Innenministerium im Zentrum der Stadt in Trümmer sank. Stolz stand ich am Fenster und sah dabei zu. Nur noch ein Haufen Asche blieb von dem Ort, wo sonst diese riesigen gepanzerten Fahrzeuge ihre täglichen Runden begannen. Die große pilzförmige Flamme, die gen Himmel schoß, war so schön.

Erstmals machten wir uns nicht solche Sorgen um die Folgen des Angriffs. Endlich führte diese nicht enden wollende Tragödie zu etwas Gutem. Die Fenster in den Nachbargebäuden gingen zu Bruch. Na wenn schon! Wir hoffen nur, daß die Angriffe weitergehen und die Nato-Flugzeuge heute nacht noch tiefer fliegen.

Unter meinen Freunden galt ich als Nachtschwärmer. Die Nacht war mein Element, und ich liebte das Warten auf den Tag. Jetzt hasse ich die Nacht. Wenn der Abend kommt, muß ich aus dem Haus und mir eine neue Bleibe suchen. Ich nehme meine Decke, bleibe aber die ganze Nacht wach und hoffe nur, daß es nicht an meiner Tür klopft.

Ich höre das Dröhnen der Jäger, das Knattern der Luftabwehr und Maschinengewehre, das Rufen und Schreien. Jede Detonation klingt mir, als käme sie aus der Richtung, wo unser Haus liegt. Die Angst bringt mich um. Der Strom wird um 6 Uhr abends abgeschaltet. Kerzen anzuzünden verbietet sich, sonst sieht man ja, daß jemand im Haus ist. So bleiben wir im Dunkeln und warten.

Der Autor ist Balkankorrespondent des „Institute for War & Peace“ in den USA, das Journalisten mit Informationen versorgt. Er hält seinen Namen aus Sicherheitsgründen geheim. (Copyright: Global Beat Syndicate 5 Upland Road, Cambridge, MA. 02140. Die Internet-Adresse, von der auch dieser Text stammt, lautet: http// www.nyu.edu/globalbeat/syndicate.