Die Nacht der schlafwandelnden Toten

■ Endlich im Kino: Elfriede Jelineks Lieblingsfilm „Carnival of Souls“ von Herk Harvey

Auch in den USA gab es Schubladenfilme, und dort war die Zensur durch die Kinokasse fast so rigide wie einst die ideologische in den Ostblockländern. So kann man den Film „Carnival of Souls“ (1962) durchaus als Gegenstück zu Ale-xander Askolovs „Die Kommissarin“ sehen, auch wenn er auf den ersten Blick nur ein Horrorfilm ist.

Eine Stunde, nachdem ihr Auto von einer Brücke stürzte, steigt die junge Mary wieder aus den Fluten. Aber sie und alles um sie herum wirkt jetzt seltsam, unheimlich und leblos. Phantome mit weißen Gesichtern und weit aufgerissenen Augen erscheinen ihr in Fenstern und Spiegeln. In einem Busbahnhof und auf einer belebten Straße bemerkt sie keiner der vielen Passanten, und selbst wenn ihre Mitmenschen sie sehen, reagiert sie wie unter Hypnose. Schauerliche Kräfte ziehen sie immer stärker zu einem verlassenen Vergnügungspavillon am Ufer des Salt Lake. Die somnambule Mary findet kurz Arbeit als Kirchenorganistin, und in einer der unheimlichsten Szenen des Films spielt sie in Trance eine immer wahnsinniger klingende Musik, bis der entsetzte Pfarrer ihr mit den Worten „Gotteslästerung – was spielst du in der Kirche“ die Hände von den Tasten reißt.

All das hat Herk Harvey in ausgesucht schönem Schwarz-weiß gedreht. Nicht als Teenie-Horror-Schocker, sondern als anspruchsvolle Filmkunst, die eher an Bergmann und Antonioni als an „Die Nacht der lebendigen Toten“ erinnert. Lange Passagen, in denen nur seltsame Orgelklänge zu hören sind, schaffen eine gespenstische Stummfilmathmosphäre. Niemand geringerer als Elfriede Jelinek nennt „Carnival of Souls“ einen ihrer Lieblingsfilme, und in dem ihm gewidmeten Essay „Die weiße Frau und der Fluß“ schreibt sie: „Der Film kommt fast ohne die üblichen Tricks des Gespensterfilms aus, das Verschwinden und Aus-dem-Nichts-Auftauchen der Gespenster ist von rührender Schlichtheit, nur mit ein wenig dunkler Schminke um die Augen und verschmiertem Lippenstift sind sie geschmückt, alle scheinen sie unversehrt, sogar recht elegant gekleidet, wie sie sich da in einem alten Schwimmbad zum Tanz drehen, ein bißchen Zeitraffer, und ab geht die stille Post.“

Harvey war ein Avantgardist, und sein Film ging bei Doppelvorstellungen in Autokinos sang- und klanglos unter. Er wurde danach kaum noch gezeigt, und Herk Harvey drehte nie wieder einen Spielfilm, sondern zimmerte sich eine bescheidene, doch sichere Karriere als Industrie- und Werbefilmer zurecht. 1989 wurde der Film in den USA neu entdeckt, 1990 lief er auf dem Münchener Filmfest zusammen mit anderen US-Schubladenfilmen wie „Blast of Silence“ und „The Plot against Harry“ und wurde als eine der größten Entdeckungen in der Geschichte des Festivals gefeiert. Aber auch während der 28 Jahre, in denen es fast unmöglich war, ihn zu sehen, stieg unter Filmbuffs sein Renommé als Kultfilm. Bei einem Interview gab Harvey dafür eine schlüssige Erklärung: „Ein Kultfilm ist für mich nichts anderes als ein Film, den so wenige gesehen haben, daß es ein Statussymbol ist, ihn auch gesehen zu haben.“ Tun Sie also etwas für ihren gesellschaftlichen Status, „Carnival of Souls“ läuft in drei dunklen Nächten.

Wilfried „untot“ Hippen

Kino 46, fr+sa 22.45, so 22.30., engl. O.