Contra: Nach fast fünf Stunden fängt bei diesem „Faust I“ erst die Arbeit an – ein Versuch, diese Inszenierung gut zu finden und am Ende daran zu scheitern

Ja, es gibt da noch diese andere Möglichkeit: Sich nämlich zu zwingen, diese Inszenierung gut zu finden. Es wäre aber viel Arbeit damit, denn bei dieser Inszenierung handelt es sich um ein Monstrum, das nicht nur Sprüche vom „Ewig weiblichen“ und „Pudels Kernen“ macht, sondern auch zwei Teile hat. Den „Faust“ von Goethe, dessen erste kleinere Hälfte der selbstgemachte Faust-Experte und noch selbstgemachtere Brechtianer Manfred Karge ganz genauso, nämlich karge zum 250. Geburtsjahr des Dichters jetzt im Theater am hä hä Goetheplatz servierte. Fast fünf Stunden kann oder muß der theatergeneigte Besucher dort förmlich absitzen, und doch fängt die eigentliche Arbeit erst danach an: Nämlich die, zu begreifen, was uns der karge Karge Nineteenninetynine eigentlich erzählen will. Aber müssen wir uns immerfort und noch dazu bei schönem Wetter eine Arbeit machen?

Der Schulweisheit nach erzählt Goethe in seinem quasi nie fertig gewordenen Opus magnum vom Guten und vom Bösen im Menschen und davon, wie die eine Seite nicht glücklich werden kann, ohne daß die andere zugleich Schaden anrichtet. „Alles Gelungene ist eine Form von Gewalt“, sagte der Sänger Heinz Rudolf Kunze einmal dazu, bevor er sich in einen Zausel verwandelte. Im ersten Faustteil, der aus mittelalterlicher Enge an den Rand der Neuzeit galoppiert, muß Margarete, genannt Gretchen, deshalb dran glauben. Im zweiten Teil, der am Goetheplatz im Herbst nachgereicht wird und nebst allerlei Mysterien so etwas wie eine Dialektik der Aufklärung vorzeichnet, strampelt zumindest der Mann (Faust) sich frei, und beginnt mit göttlichem Segen der achte Tag der Schöpfung.

In Manfred Karges Inszenierung des ersten Teils ist, auf den ersten Blick betrachtet, gar nichts Mittelalterliches. Nur wer Düsternis, Langsamkeit und laut krakeelende, mit brennenden Händen rudernde Erdgeister mit dieser Epoche assoziiert, trifft ins Schwarze und – daneben. Denn abgesehen vom düsteren, erst spät durch ein halbes Dutzend Tücher an bewegten Prospektstangen optisch aufgepeppten und fast ganz zum Schluß in den Bremer Ratskeller verwandelten Riesenraum mit seiner schiefen Ebene und den zwei nur blauen Bögen oben drüber (Bühne: Vincent Callara) ist die Szenerie neuzeitlich.

Denn Anna Cumins Kostüme siedeln irgendwo am Beginn des 20. Jahrhunderts. Und Karges Menschen brauchen sich kaum freizuschwimmen von überirdischen Mächten – sie wissen schon alles oder haben wenigstens eine Ahnung. Folglich ist an Margarete (sehr gut: Susanne Schrader) ganz und gar nichts gretchenhaftes. Folglich sehen sich die beiden Fauste (Peter Pagel Lear-haft als der Ältere, Franz Sodann vor allem schön und doch auch heutig als der Jüngere) den Mephisto auf Augenhöhe an. Und folglich wirkt und schaut dieser Mephisto (mit „Helden wie wir“-Schalk: Andreas Herrmann) aus wie der Herr von der Hamburg-Mannheimer, und bei Versicherungsvertretern ist Mißtrauen ohnehin ganz angebracht. Ja selbst die Auftritte von Gott und Geistern kommen so brechtisch unromantisch daher, daß einem weder ein Schreck in die Glieder fährt noch ein Lacher über die Lippen rutscht.

Ach, überhaupt Brecht. Und Weill. Und Dessau und die anderen. Weil er nicht nur Regisseur, sondern auch Autor (und Schauspieler) ist, hat Manfred Karge die opulente Szene aus dem Auerbachkeller (und das Vorspiel auf dem Theater und, und, und) gestrichen und selbst gedichtet. Vom Bilanzen fälschen ist da dreigroschenoprig die Rede, und auch die aktuelle Bürgerkriegsflüchtlings- und Neonaziproblematik ist da mutter-couragig in die Verse einer langen Szene gegossen. Dazu hat der Komponist Alfons Nowacki für diese musicalhafte Inszenierung eine Musik geschrieben, die neben Barockzitaten vor allem in dieser Tradition steht und aber – vom Synthesizer andauernd eingespielt – wie ziemlich nervtötendes Geklimper klingt. In den Himmel möchte man nicht, wenn die da so singen wie am Goetheplatz, doch in der Hölle ist's auch nicht besser. Dabei hat man in diesem Faustland doch offenbar alle Zeit der Welt – so seelenruhig das ganze Seelendrama vonstatten geht.

Nein, der Selbstzwang ist gescheitert. Dieses Faustical ist – fast nur abgesehen von der sehr ehrlichen, wahrhaftigen, nackten „Wie hältst Du's mit der Religion“-Szene – eine äußerst zähe Veranstaltung. Nur eines: Wo Manfred Karge seine Inszenierung des ersten Teils so sehr in unser Jahrhundert der Entdeckung des Himmels holt, muß ihm für den zweiten Teil vielleicht etwas Visionäres eingefallen sein. Schaunmerma.

Christoph Köster

Weitere Aufführungen: 4., 14., 17., 24. und 28. April um 19.30 Uhr im Theater am Goetheplatz