Langsame Heimkehr

Francesco Rosis „Die Atempause“: Wie Primo Levi von Auschwitz nach Turin zurückkehrte, wie der Zeitzeuge im Weg ist und wie sich die Rezeptionshaltungen diesseits und jenseits des Atlantiks unterscheiden  ■ Von Brigitte Werneburg

Traute man sich, die Tausende Kilometer und fast ein ganzes Jahr dauernde Irrfahrt seiner Hauptfiguren so zu bezeichnen, möchte man Francesco Rosis jüngsten Film ein hinreißendes Roadmovie nennen. Freilich beginnt die Reise, von der „Die Atempause“ berichtet, da, wo die Geschichte gewöhnlich zu Ende ist. Denn Rosis Protagonisten haben das Konzentrationslager Auschwitz überlebt. „Die Atempause“ zeigt also einen Aufbruch jenseits aller alltäglichen Beweggründe.

Doch „Die Atempause“ ist ein Roadmovie: Wenn man nicht weiß, wohin man geht, führt jeder Weg dahin. Das ist die Lage, in der sich Rosis Protagonisten befinden, seitdem sie von den abziehenden Deutschen im Krankenbau von Buna-Monowitz zurückgelassen und am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurden. „Die Atempause“ ist eine Odyssee durch ein weites, fremdes Land. Und der Weg ist auch hier das Ziel, denn das weitschweifige Heimkommen bedeutet ein langsames Ins-Leben-Zurückkehren; die Befreiung ist nicht das Ende aller Prüfungen.

Wie die vier Reiter der Apokalypse erscheinen die Soldaten zu Pferde hoch am nachtblauen Horizont aus der Perspektive Primos (John Turturro), der im Krankenbau zurückgeblieben ist. Doch der nächste Schnitt zeigt kindliche, bäuerische Gesichter: die Vorhut der Befreier. Keine brutale Soldateska, sondern, wie sich im Verlauf des Filmes erweist, rauhe, etwas verwahrloste und eher lax disziplinierte Krieger. Ein Gutteil der Spannung der „Atempause“ rührt von diesen nicht ganz berechenbaren Reisebegleitern her, die freilich tapfere Soldaten sind, „sanft im Frieden und schrecklich im Krieg“, wie in der Erzählung zu lesen ist, die dem Film zugrunde liegt; „Die Atempause“ ist auch eine Literaturverfilmung.

Diese Männer hatten ihren guten Anteil an der Befreiung Europas vom Faschismus. Doch im Kino, so steht zu befürchten, werden es spätestens in zehn Jahren die Amerikaner sein, die Auschwitz befreit haben. Die Welt mag es ja schon heute kaum mehr glauben, daß es nicht diese Armee war. Derart erfolgreich bringt Steven Spielberg seine Idee unter die Leute, daß nur gute amerikanische Soldaten in den Krieg ziehen, um das Gute zu tun. In einem Spielfilm die alliierte Rote Armee in dieser Position zu zeigen, gilt in den Vereinigten Staaten als „prosowjetische Propaganda“. Mit diesem Vorwurf bedachte jedenfalls der Filmkritiker James Berardinelli „Die Atempause“, als der Film in die amerikanischen Kinos kam. Nun gilt Berardinellis Vorwurf aber eigentlich Primo Levi, dessen autobiographischer Roman „La tregua“ Francesco Rosi die Vorlage gab. Levi hat der Roten Armee in seinem Buch nichts Böses nachzusagen – was andere Menschen anderswo, etwa die Frauen im eroberten Berlin durchaus tun könnten, das wissen wir – und Francesco Rosi bleibt dieser Sicht Primo Levis treu. Eine von Levi sehr eindrücklich erzählte Szene über einen deutschen politischen Gefangenen hat Rosi freilich erst gar nicht verfilmt: „Und nach zehn Jahren des Schweigens begann er mit einer dünnen, schrillen Stimme, grotesk und feierlich zugleich, die Internationale zu singen, und ich hörte zu, verwirrt, mißtrauisch und bewegt.“

Es ist, wie der ungarische Schriftsteller Imre Kertesz in der Zeit schrieb. Der authentische Zeuge ist „im Weg, man muß ihn beiseite schieben wie ein Hindernis“. Jedenfalls in einer Welt according to Hollywood. Nahm Rosi darauf Rücksicht, und verzichtete deshalb auf jene Szene der ersten Nacht in Freiheit? Nicht nur sein Produzent Martin Scorsese und die Wahl seines Hauptdarstellers John Turturro, sondern die ganze erzähltechnische Anlage des Films vermittelt das Gefühl, Rosi habe „Die Atempause“ durchaus mit Blick auf Amerika gedreht; mit Angeboten gerade an ein amerikanisches Publikum, das sich von „Schindlers Liste“ überwältigen ließ. Nicht zuletzt die schwarzweißen Rückblenden auf das Lager dürfen als seine Referenz an Spielberg gelten. Wie kam nun sein transatlantisches Werben an?

Rosis Bemühung um ein großes Publikum hat die amerikanische Kritik verstanden. Sie war darüber nicht erfreut. Rosi mache etwas viel her von der universellen Sprache der Musik, bemängelte der Kritiker der New York Times eine Szene, in der ein russischer Soldat zur Feier des Falls von Berlin das Grammophon in Gang setzt und Fred Astaire in „Top Hat“ imitiert. Den Säbel statt des Stöckchens schwingend tanzt der Russe zu „Cheek to Cheek“, doch in so enger Berührung mochte Kritiker Steven Holden die Verbündeten nicht sehen und merkte verdrießlich an, „Die Atempause“ bemühe sich nicht wirklich, Politik und Geschichte Europas am Ende des Zweiten Weltkriegs zu entwirren. Aber noch hatten sich die golfspielenden Antisemiten nicht zu ihrer antikommunistischen Hexenjagd formiert: jene Republikaner, die 1942 Roosevelts Eingabe niederstimmten, die Einwanderungsgesetze zugunsten der osteuropäischen jüdischen Flüchtlinge zu lockern. Oder wie Primo Levi die Situation aus Sicht seiner Begleiter beschrieb: „Der Krieg ging zu Ende, der endlos lange Krieg, der ihr Land verwüstet hatte; für sie war er schon vorbei; jetzt kam die große Atempause, denn die harte Zeit, die folgen sollte, hatte noch nicht begonnen, und das verderbliche Wort vom Kalten Krieg war noch nicht gefallen.“

In dieser Atempause sind die Parteien nicht zu entwirren, und die Menschen, die millionenfach in Europa unterwegs sind. Genau dieses Chaos bringt aber das Roadmovie auf den Weg entlang der noch befahrbaren Teilstrecken der zerbombten sowjetischen Eisenbahnlinien. Hier werden im Strudel der Ereignisse italienische Kriegsgefangene, die in Rußland immerhin für Mussolini und Hitler kämpften, mit italienischen Auschwitz-Überlebenden wie Primo zusammengeworfen; und für einen Moment fallen selbst die alten Feind-Freund-Bestimmungen der allgemeinen Auflösung zum Opfer, während sich die neuen noch nicht ausbilden konnten. Es ist die notwendige Verschnaufpause für die langsame Heimkehr.

In diesem Wirrwarr schnappt sich der überlebenstüchtige und gerissene „Grieche“ (Rade Serbedzija) Primo und macht ihn zum Träger seines schweren Rucksacks. Doch schon am Nachmittag hat sich das Herr-Knecht-Verhältnis vom Morgen in ein Verhältnis von Meister und Schüler gewandelt, das am Abend das von großem Bruder und kleinem Bruder ist. Wenig Verständnis hat der große Bruder allerdings für den Zwang des kleinen Bruders, seiner Umwelt von Auschwitz berichten zu müssen. Dieses Thema, das mit der Frage, warum ausgerechnet er überlebte, Primo Levis Lebensthema bis zu seinem Selbstmord 1987 blieb, symbolisiert im Film Primos Häftlingsjacke. Sie, die Levi „bis dahin eifersüchtig gehütet hatte“, tauscht er in Budapest gegen ein „nobles Gericht aus gegorenem Käse und Zwiebeln ein“. Das mag Rosi aber in seinem Film nicht zeigen – auch er pflegt seine Holocaust-Sentimentalität. Und dafür – für den Nachdruck, den er der Frage der Brüderlichkeit, der Versöhnung geben möchte, erfindet er rundweg eine Szene, die einigermaßen befremdlich ist.

Nach langer Reise im Bahnhof von München angekommen, zeigt Primo einem Wehrmachtssoldaten, der in der Ruine Reparaturarbeiten ausführt, die gestreifte Jacke, worauf dieser vor Primo in die Knie geht und um Verzeihung bittet. Die amerikanische Kritik erinnerte sich an ihr Kino und an Liam Neesons Zusammenbruch am Ende von „Schindlers Liste“, wir erinnern uns vielleicht eher an die politische Zeitgeschichte, an Willy Brandts Kniefall in Warschau. Aber diese große symbolische Geste läßt sich nicht einfach für einen Film verkleinern, konkretisieren und vorwegnehmen, das Resultat ist Kitsch. Eine unmögliche Szene, in der sich nachgerade das permanente Scheitern des Berliner Holocaust-Mahnmals widerzuspiegeln scheint.

Worauf sich die amerikanische und die europäische Filmkritik aber einigen kann, ist John Turturro als Primo Levi. „Die Atempause“ ist sein Film. Seine Erzählerstimme führt durch die Geschichte, während sein differenziertes Spiel ihrem anekdotenreichen Bilderbogen seine melancholische, wenngleich durchaus amüsierte Atmosphäre gibt. Es ist die distanzierte Stimme des Außenseiters, die den Ton des Filmes vorgibt. Und doch kann auch dieser Außenseiter angesichts der schwierigen Aufgabe, einem russischen Bauern ein Huhn abzuschwatzen, in völliger Selbstvergessenheit als großartiger Clown brillieren. Denn was bleibt dem 26jährigen italienischen Chemiker, der des Russischen so wenig mächtig ist wie seine Kameraden, anderes übrig, als dieses Huhn darzustellen? Man hätte John Turturro, der vor allem für seine recht exzentrischen Auftritte bei den Coen Brüdern berühmt ist (zuletzt als narzißtischer Super Bowler Jesus bei „The Big Lebowski“), hier gefährdet gewähnt, zuviel zu tun. Doch sehr balanciert gackert und flattert er mit der ungeschickten und zurückhaltenden Grazie eines jungen Mannes, der, früh alt geworden, die Lust am Spiel erst wieder entdeckt. Und als er dann noch ein Ei fallen läßt, ist die Kamera schon weit von ihm weg und wir sehen die Szene als Schattenriß im abendlichen Licht.

„Die Atempause“, Buch und Regie: Francesco Rosi, mit John Turturro, Rade Serbedzija, Massimo Ghini u.a., I 1997, 108 Min.

Neu aufgelegt: Primo Levi: „Die Atempause“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 260 S., 14,90 DM