Plädoyer für eine realpolitische Außenpolitik

■ Die politische Szene der Bundesrepublik hat sich seit 1989 gründlich verändert: Um die Friedensbewegung ist es still geworden. Heute geht es weniger um Moralfestigkeit, als um internationale Spielregeln

Die einst so mächtige Friedensbewegung der Bundesrepublik hat sich still und leise verabschiedet – schon bei der ersten Nagelprobe. Wie weiland am Abend des Ersten Weltkriegs gibt es auch angesichts des ersten militärischen Einsatzes nach 1945, an dem die Bundeswehr teilnimmt, keine streitenden Parteien mehr. Die Grünen, aus der Friedensbewegung geboren, sind an der Regierung beteiligt und tragen die Verantwortung für die Nato-Schläge gegen Jugoslawien mit. Keiner hängt Bettlaken heraus. Keiner ruft „Nie wieder Krieg!“ Was ist passiert?

Nicht viel – außer, daß die Welt sich gründlich verändert hat. Seit 1989 ist die Friedensbewegung historisch geworden, erscheint sie als untrennbar verbunden mit den machtpolitischen Parametern des Kalten Krieges. Was einstmals prinzipienfest aussah, entpuppt sich jetzt als relativ. Erst jetzt ist das Mißverständnis aufgehoben, daß Pazifismus mit der bundesdeutschen Friedensbewegung identisch sei. Das ist er nicht, weshalb nicht der Pazifismus tot ist, wohl aber eine Bewegung, die so ideologiefern nicht war, wie sie sich in den achtziger Jahren gab.

Pazifisten wissen um das moralische Dilemma, in das Überzeugungen führen können. Nur wer keinen Zwiespalt kennt, wirft das Prinzip bei seiner ersten Infragestellung weg.

Die westdeutsche Friedensbewegung der 80er Jahre hat weit mehr noch als „68“ das politische Klima im Lande geprägt. Heute erscheint sie als eine vorübergehende Reaktion auf die Weltlage. Aber hatte man sich vorstellen können, daß sich auch diese Weltlage als vorübergehend erweisen würde? „Nie wieder Krieg“ sei, glaubte man damals, die einzige mögliche Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg.

Im nachhinein erweist sich diese Parole als die für viele damals einzig vorstellbare Lehre aus dem Kalten Krieg. Jede kleine Krise, glaubte man ja keineswegs unbegründet, könne den großen Schlagabtausch zwischen den beiden Weltmächten provozieren, in dem Deutschland, Ost und West vereint, das Aufmarschgebiet der Truppen darstellen müsse oder das bevorzugte Ziel atomarer Waffen wäre. Schon aus Eigeninteresse war man in der Bundesrepublik für den Frieden, und diese Differenz zum prinzipiellen Friedenswillen fiel schon deshalb nicht auf, weil in der Vorstellung nicht weniger Zeitgenossen – nicht nur Deutscher – die Konfrontation der beiden Giganten sowieso der Anfang vom Ende, nämlich der Auftakt des 3. Weltkriegs gewesen wäre.

Nach 1989 erwies sich die Parole „Nie wieder Krieg“ als frommer Wunsch angesichts einer Realität, die sich nicht danach richtete. Das Ende der Blockkonfrontation machte Krieg wieder möglich – begrenzten Krieg, ohne die atomare Apokalypse. Die teilweise hysterischen Reaktionen auf den Gegenschlag der Alliierten gegen Saddam Hussein 1991 demonstrierten unübersehbar, daß die neue Lage noch nicht in den Köpfen angekommen war. Wie sollte das auch so schnell gehen – mehr als eine Generation war mit dem Szenario des Kalten Kriegs aufgewachsen, das nur ein Gebot zuzulassen schien: keine Bewegung, wenn man auf dem Pulverfaß sitzt.

Seit 1991 durchmißt die Bundesrepublik einen tiefreichenden Lernprozeß. „Nie wieder Krieg“ – eine Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg? Vielleicht. Dann aber nur für die Deutschen. Denn die damaligen Kriegsgegner hatten Hitler und Nazideutschland nicht mit Friedlichkeit, sondern mit Gewalt in die Knie gezwungen.

Der 1991 noch heftig umstrittene Vergleich Saddam Husseins mit Adolf Hitler, den damals Hans Magnus Enzensberger anstellte, gewann langsam an Plausibilität. Nicht immer stellen die Deutschen den Diktator, der die Welt aus den Angeln hebt. „Nie wieder Hitler“ bzw. „Nie wieder einen Diktator dulden, der womöglich mehr will als bloß ein paar Staatsgrenzen verändern“ war eine realistischere Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg als die alte Parole.

Vor allem aber: Mit der wiedergewonnenen Souveränität war es den Deutschen nicht mehr erlaubt, sich den Frieden von anderen (militärisch) sichern zu lassen und dabei hochtrabende Friedensparolen zu verbreiten. Die Friedensbewegung verlor in dem Maße an Bedeutung, in dem sich die Rolle Deutschlands verschob. Heute erwarten seine Nachbarn nicht mehr, daß Deutschland sich, der Geschichte wegen, zurückhält – sondern daß es sich, der Geschichte wegen, beteiligt.

Ob die Geschichte immer die richtige Lehrmeisterin ist, wenn es auf Nüchternheit ankäme, ist indes die Frage. Im Moment scheint es so, als ob man in diesem Lande die Lehren aus der Geschichte im alten Übereifer zieht, und aus jeder außenpolitischen Notwendigkeit gleich wieder ein allgemeingültiges Prinzip macht.

Seit den heftigen Auseinandersetzungen um Nato-Einsätze wie den der Friedenstruppe SFOR in Bosnien-Herzegowina hat sich an die Stelle der alten Parolen eine neue gesetzt, deren Vorzug ist, daß sie keine egoistische Verweigerungshaltung mehr demonstriert, sondern Empathie: „Nie wieder Auschwitz“.

Ihr Nachteil aber ist ihre Bedingungslosigkeit, ihre Selbstgewißheit. Es ist, als ob der alte Rigorismus der Friedensbewegung die Politik wieder bestimmte – diesmal zwar nicht mit einem pazifistischen, aber mit einem moralischen Imperativ, der ebenfalls dazu angetan ist, alle Argumente unterhalb der großen moralischen Geste niederzubügeln.

Das aber geht nicht in so existentiellen Fragen wie Krieg und Frieden. Wir sollten uns daran erinnern, daß Menschen Regeln und Verfahren erfunden haben, um sich und andere vor den Folgen von Irrtümern zu schützen, die sie in gutem Glauben begehen. Die weitverbreitete Vorstellung, es komme aufs (bürokratische!) Procedere und aufs skrupulöse Zögern nicht an, wenn irgendwo auf der Welt das Menschenrecht verletzt werde, ist falsch und gefährlich.

Sicher – wenn ausgerechnet Jürgen Trittin ein UN-Mandat fürs Peacekeeping im Kosovo anmahnt, dann ahnt man dahinter alte linke Positionen. Schließlich weiß man, was man von der Entscheidungsfähigkeit der UN zu halten hat. Ein UN-Mandat zu fordern heißt von vornherein, eine militärische Intervention auszuschließen.

Die Diskussionswürdigkeit eines UN-Mandats aber heißt nicht im Umkehrschluß – und so klingt es bei manch einem frisch gewendeten Interventionisten –, daß es auf Regeln und Regularien nicht ankäme, wenn es um höhere Güter geht. Im Gegenteil. Da im Krieg die Grenzen zwischen Gut und Böse unweigerlich verschwimmen – auch Gewalt für den Frieden bleibt nunmal Gewalt – sind militärische Aktionen um so eher auf das angewiesen, was Demokratie auszeichnet, die ja auch nicht auf die Moral von Menschen setzt: auf Verfahrensgerechtigkeit.

Grober gesagt: Wenn man sich gegen den eigenen Irrtum schützen will – und wer könnte ihn ausschließen? –, kommt es um so eher darauf an, sich an die Regeln zu halten. Mal abgesehen davon, daß die Delegitimation des Völkerrechts schon deshalb keine gute Idee ist, weil sich moralisch weniger hochstehende Personen wie Diktatoren und andere Verbrecher das merken könnten.

Die deutsche Friedensbewegung hat keine Funktion mehr. Deshalb sollte sie auch nicht auf den Regierungsbänken sitzen. Eine realpolitische Außenpolitik müßte deshalb auch von ihren letzten Rudimenten Abschied nehmen – vom Wunsch, auf stürmischer See über prinzipienfeste Parolen zu verfügen. Die moralische Antwort – wir können nicht zulassen, daß gleich nebenan Genozid und Massenvertreibung stattfinden – ist der Anfang, nicht das Ende eines Dilemmas. Das sollte man sich für diesen wie für alle künftigen Fälle merken. Cora Stephan