"Wir haben alles verloren"

■ Flüchtlinge aus dem Kosovo berichten von systematischen Vertreibungen und Erschießungen durch serbische Spezialeinheiten und bewaffnete Zivilisten. Viele wurden zwangsweise in einen Zug an die makedonische Grenz

Die wartenden Menschen weinen oder lehnen sich, sichtlich geschwächt, eng aneinander. Die Kinder sind still, sie schmiegen sich an ihre Mütter, den einzigen Schutz, der ihnen noch geblieben ist. Sie haben es geschafft – den Grenzübertritt aus dem Kosovo nach Makedonien. Jenseits des Schlagbaums der makedonischen Grenzwächter hat sich eine Schlange gebildet, Menschen, soweit das Auge reicht – ein Troß des Elends und der Verzweiflung. Mindestens fünf Kilometer lang sei die Schlange, behauptet jemand, ein anderer weiß sogar von 15 Kilometern Länge, die Schlange reiche bis in den Ort Lipljan.

In Tarnkappen von Haus zu Haus

Diejenigen, denen es gelungen ist, das rettende Nachbarland zu erreichen, sind Vertriebene aus Priština, der Hauptstadt der serbischen Provinz Kosovo. Sie wurden erst an diesem Dienstag mit Waffengewalt aus ihren Häusern verjagt, in einen Zug verfrachtet und hier an die Grenze gebracht. Bis vor zwei Tagen noch Laden- oder Hausbesitzer, haben die Menschen jetzt nur noch das, was sie auf dem Leibe tragen.

Am Dienstag mittag, nach dem Angriff der Nato-Flugzeuge auf das Polizeihauptquartier, das in einem von Serben dominierten Viertel Prištinas liegt, soll die Aktion der serbischen schwerbewaffneten Männer begonnen haben. Im Stadtviertel Kodra Trimave, in dem auch die Zentrale der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gelegen war, stehe kein Haus mehr, sagt einer der Flüchtlinge.

Die Spezialpolizisten und bewaffneten Zivilisten, die Tarnkappen getragen hätten, seien von Haus zu Haus gegangen, hätten Waffen auf die Bewohner angelegt und sie gezwungen, das Haus zu verlassen. „Sie riefen ,Nato, Nato, so ist die Nato‘ und gossen Benzin in die Häuser und zündeten sie an.“ Dann seien die Bewohner zusammengetrieben und zu einem Eisenbahnzug geführt worden, der sie hier in die Nähe der Grenze brachte, berichtet der Mann.

Manche Familien wurden in dem Durcheinander getrennt. Jetzt suchen viele verzweifelt nach ihren Angehörigen. Auch Ragib H. hält nach seiner Familie Ausschau. „Ich habe fünf Tote auf der Straße liegen sehen“, sagt er. Andere Flüchtlinge berichten, sie hätten die Hinrichtung von 18 Männern beobachtet. Sie geben an, die beiden Polizisten Jagoslav Bogoslavović und Zoran Koprivnica hätten am Dienstag um 14 Uhr in der Lakrishte-Straße 18 Männer erschossen. Das alles sei innerhalb von fünf Minuten geschehen. Die Betroffenheit ist den Befragten anzumerken. Seinen Namen will kaum jemand nennen. Zu groß ist die Angst um Angehörige, die noch immer im Kosovo sind.

Nach übereinstimmenden Angaben der Vertriebenen wurde die Aktion der serbischen Sicherheitskräfte und der bewaffneten Zivilisten etwa Dienstag mittag in unterschiedlichen Stadtteilen gestartet. Diesen Berichten der Flüchtlinge zufolge zwangen sie die Menschen auf die Straßen und zündeten die Häuser an. Die einzelnen Gruppen der Vertriebenen wurden von Soldaten bewacht und zu bestimmten Zielen gebracht.

Die serbischen Sicherheitskräfte gingen offenbar planmäßig vor und transportierten die Menschen, nach Stadtvierteln geordnet, unter Bewachung ab. Dabei sei es zu Übergriffen gekommen. Die hier an der makedonischen Grenze aufgetauchten Flüchtlinge stammen im wesentlichen aus dem Viertel Kodra Trimave. Von Berichten über ein Konzentrationslager im Stadion von Priština wissen sie nur vom Hörensagen. Niemand der Befragten hatte sich in der Nähe des Stadions aufhalten können.

Viele der in Makedonien Zuflucht Suchenden sind aus der Nachbarstadt Obelić vertrieben worden. In Obelić, so mehrere Zeugen, sei jetzt wohl kein Albaner mehr anzutreffen, kein albanisches Haus stehe mehr. In dieser Stadt liegt ein großes Kohlekraftwerk, das Elektrizität für Serbien produziert. Eine andere Flüchtlingsgruppe stammt aus der im südlichen Kosovo liegenden Stadt Urosevac. Sie berichten über ein ähnliches Vorgehen der serbischen Polizei.

Geduldig warten die Menschen am Schlagbaum. Obwohl die makedonische Regierung in der Nacht zu Mittwoch erneut die Schließung der Grenze verfügte, werden die Vertriebenen ins Land gelassen, wenn auch die Registrierung zeitraubend ist.

Vielen haben nichts zu essen oder zu trinken

Bis gestern nachmittag gab es weder Getränke noch Essen für die womöglich mehr als 10.000 Menschen. Viele haben weder zu essen noch zu trinken. Erst gestern nachmittag teilten Mitarbeiter des Roten Kreuzes mit, es würden kurze Zeit später Nahrungsmittel und Wasser verteilt werden. Dies gelte jedoch nur für jene, die sich schon auf makedonischem Territorium oder im Niemandsland befänden. Wer weiter hinten, auf jugoslawischem Territorium, in der Schlange steht, wird von diesem Segen nichts abbekommen.

Viele Menschen machen einen von den Strapazen gezeichneten Eindruck. „Wir haben jetzt alles verloren“, sagte eine junge Frau, „alles, was mein Vater als Gastarbeiter in Deutschland in langen Jahren erarbeitet hat. Es war ein großes, ein schönes Haus.“ Jetzt hofft sie, daß ihre Schwester, die in München wohnt, in Makedonien eingetroffen ist, um sie abzuholen. Erich Rathfelder, Skopje