Engel über Ingolstadt

■ Klassikerpflege als Aufputschmittel: Die Regisseurin Barbara Bilabel macht aus Marieluise Fleißers Tragödie „Fegefeuer in Ingolstadt“ ein ganz hinreißendes, zum Knutschen schönes Spektakel

Wie kriegt man sie nur? Wie kriegt man sie, die Jungs und Mädels zwischen 14 und 25, nur dazu, nicht bloß „Giga“ und Stefan Raab zu gucken? Und wie kriegt ein Theater sie dazu, auf eine Baustelle namens Bremer Schauspielhaus zu irren und sich einen Klassiker der Moderne anzusehen? Zumindest in Bremen ist die Antwort einfach: Indem es ihnen einen fairen Eintrittspreis macht und eine großartige Regisseurin namens Barbara Bilabel ein so krasses Stück wie Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ inszenieren läßt.

It's Partytime in Oberbayern. Olga, die gepiercte Kleinbürgerstochter mit Girlyzöpfen mag's am liebsten laut und Techno. Wo sie sich hinflezt, wächst kein Gras mehr. Dabei ist sie doch bloß ganz normal. Nämlich ein bißchen schüchtern. Und schwanger ist sie auch. Roelle ist gegen sie ein Kauz. Er hat Engelserscheinungen und stinkt nach Überseehandel. Die anderen mögen ihn nicht. Sie brauchen ihn nur wie Jäger eine Beute brauchen. Er aber mag Olga. Doch das Kind hat er ihr nicht gemacht. Das war Peps.

Marieluise Fleißer (1901-1974) hat diese und weitere Typen als 22jährige erfunden. Wenig später war sie einem gewissen Bertolt Brecht zu nahe gekommen und hat sich dabei die Flügel versengt. Der Dichter aus Augsburg hat dem Stück den Titel gegeben und für die Uraufführung gesorgt. Auch zum Schreiben des Anschlußstücks „Pioniere in Ingolstadt“ hat er die Fleißer gedrängt und es als Skandal inszeniert, der ihr lang nachhing. Die Kritiker Kerr und Ihering jubelten zwar, doch war die Fleißer bald vergessen. Erst Ende der 60er wurde sie wiederentdeckt.

Das „Fegefeuer in Ingolstadt“ ist ein kruder Text. Er handelt von der Sehnsucht nach Liebe und Ferne. Und er entdeckt die Clique für das Theater. Wer ihn heute liest, liest ihn fast als Hypertext. Es gibt in dieser fast monologfreien und eigentlich auch dialogarmen, nur aus religiös aufgeladenen Urteilen, Phrasen und Sprichworten bestehenden Sätzesammlung kaum einen Anfang und kaum ein Ende. Ein Wunder muß also geschehen, wenn jemand aus diesen Figuren Menschen macht. Und genau dieses Wunder hat Barbara Bilabel im Schauspielhaus zu Bremen vollbracht.

Vom ersten Moment an tobt, nein flezt Leben auf der Bühne. In einer bordeaux-braunen und U-Boot-haften Sitz- und Hügellandschaft (Bild: Barbara Bilabel und Beatrice Schultz) puzzelt Olgas schwindsüchtiger Vater (Volker Mosebach) vor sich hin. Bei der Fleißer ein Spießer, ist er bei Bilabel ein ostertorscher Lehrertyp, der nur die Diva hören will. Seine Kinder Olga (Anika Mauer), Clementine (Katrin Heller) und Christian (Thomas Ziesch) haben mit der Kontrolle über die Fernbedienung auch das Sagen an sich gerissen. Damit waren diese vaterlosen Gesellen schon bei der Fleißer überfordert, bei Bilabels Fleißer sind sie es erst recht.

So hauen sie sich in ihrem Dauergelage die Brocken um die Ohren, rangeln, kungeln und richten. Fies das. Und doch auch komisch. Bis Roelle kommt und Komik schon gar kein treffendes Wort mehr ist. Barbara Bilabel nämlich hat nicht nur ein liebenswert-erschütternd-witzig-wunderbares Volk aus Teenagern, gefallenen Engeln, tuntig-“Cage aux Folles“-traurigen Celine-Dion-Doublen, Videoten, Übermutter-Glucken und anderen schillernden Gestalten zum Leben erweckt. Sie hat mit ihrem Gespür für Verhalten und zeitgenössische Allerweltsträume nicht nur eine wundersame Ausgewogenheit zwischen brandheißer Aktualität und der revitalisierten Sprache der 20er Jahre gefunden.

Sie hat es auch geschafft, daß sich der sonst oft bloß so schöne Dirk Plönissen regelrecht zum Roelle umkrempelt: Mit seinem Unterbißkinn, seiner Echsenzungenhaftigkeit, seinem Handgespreize, seinem Stottern, seinem Star-Trek-T-Shirt, seiner Muttersöhnchenhaftigkeit, seiner Schüchternheit und Unberechenbarkeit ist dieser Roelle eine der zum Brüllen witzigsten und zugleich tragischsten Figuren seit Erfindung des Theaters. Knutschen könnte man ihn für dieses Schauspiel und die Bilabel gleich mit. Denn dieses „Fegefeuer in Ingolstadt“ ist eine hinreißende, dralle, witzige, junge, quicklebendige, temporeiche und untergründig hochdramatische Inszenierung. Nach der Pause schwindet der Einfallsreichtum erst langsam und dann drastisch. Doch davor ist das ein Theater wie Theater heute sein muß. Man könnte zwar zur Pause gehen. Doch damit brächte man dieses exzellente Ensemble um den verdienten Beifall für die ersten 100 von 150 Minuten.

Christoph Köster

Aufführungen: 4., 13., 15., 24. und 25.4. um 20 Uhr im Schauspielhaus