Unverhohlen repräsentativ

Als der Umzug beschlossen wurde, rechnete niemand damit, daß sich das Erscheinungsbild des Staates derart wandeln würde. Was die Bundesbauten in Berlin über den Staat sagen, dessen Hauptstadt es ist. Teil III der Serie „Berlin revisited“  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Kaum zwei Kilometer trennen den Reichstag vom ehemaligen Sitz der Volkskammer. Und doch liegen Welten dazwischen. Überraschenderweise ist der Kontrast zwischen dem Bonner Bundestag und dem Berliner Plenarbereich, in dem das Parlament am 19. April wieder zur Geschäftsordnung übergehen wird, sogar noch größer. Unterschiede springen ins Auge, lange bevor man in den Kern der Gebäude vordringt: Vor dem Palast der Republik thronen Karl Marx und Friedrich Engels als symbolische Einlaßkontrollen, so daß die Parlamentarier ihren Sitzungssaal nicht ohne einen Blickwechsel mit den geistigen Übervätern des Staates betreten konnten. Der Vorplatz des Reichstages ist frei von derlei offensichtlichen ideologischen Anspielungen. Und doch hat der riesige Repräsentationsrasen mit seinen akkurat begradigten Busch- und Baumrabatten nichts gemein mit der zwanglosen Laubenpieperidylle, die man im Gartenhof des Bonner Bundeshauses antrifft.

Daß sich das Erscheinungsbild des Staates derart wandeln würde, war alles andere als ausgemacht, als der Bundestag 1991 für die Verlagerung von Parlament und Regierung vom Rhein an die Spree votierte. Auf den ersten Blick waren damit nur ihre Dienstanschriften neu bestimmt. Eine Debatte über das Gesicht der Berliner Republik gab es damals nicht. Klar war, daß es kein neuerliches Provisorium geben würde (eine Vorgabe, die im Bundespräsidialamt der Architekten Gruber und Kleine-Kraneburg am deutlichsten Gestalt fand. Seine Ellipsenform folgt geometrischen Gesetzen, die in tausend Jahren genauso gelten werden, wie sie vor tausend Jahren galten).

Darüber hinaus gab es zwei diffuse Erwartungen: erstens die Hoffnung auf eine einfache Verpflanzung der politischen Landschaft vom Rhein an die Spree und zweitens die Befürchtung einer originalgetreuen Restauration der nach Weltgeltung strebenden Hauptstadt, die Berlin vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen war. Der Beschluß legte bereits das Fundament dafür, daß die Vorahnungen nicht Realität wurden.

Zum einen fixierte er einen Finanzrahmen, innerhalb dessen eine Hauptstadt nicht neu erfunden werden konnte – eine Perspektive, die durch die retrospektiven Ansichten ohnehin aus dem Blickfeld gedrängt worden war. Zum zweiten legte er sich auf eine Stadt fest, die um so vieles mächtiger war als die Bürgerresidenz Bonn und die kein hermetisch abgeschlossenes Regierungsviertel wollte. Zum dritten gab es keinen Masterplan, vielmehr kämpfte der Bund mit Berlin um Details. Die Hauptstadt wurde erobert, Stück für Stück. Institution auf Institution fand ihren Platz. In diesem Kleinkrieg konnte ein großer Wurf nicht entstehen. Ein Implantat, wie es das Raumschiff Bonn darstellte, blieb Berlin erspart.

Ein entscheidende Weichenstellung erfolgte 1994 aus Kostengründen: Das Kabinett beschloß, die Bundesorgane vor allem in Altbauten unterzubringen. So war man gezwungen, sich mit der Stadt, wie sie war, und mit ihrer Tradition als Dienstsitz deutscher Staatlichkeit auseinanderzusetzen. Die Aneignung der Monumente und ihrer Geschichte erfolgte – so der Arbeitstitel fast aller Umbauten – durch „Herrichtung“. Diese Methode erlaubte sogar, wieder in Betrieb zu nehmen, was durch den Nationalsozialismus historisch belastet war. Neben der Reichsbank, in die das Auswärtige Amt einziehen wird, ist das Reichsluftfahrtministerium das prominenteste Beispiel.

Nachdem die Fassade des ersten Regierungsneubaus der Nazis, die einst so dunkel und übermächtig schien wie das Dritte Reich selbst, per Sandstrahl aufgehellt und Narben, die ihr die Zeit zugefügt hatte, ausgebessert worden sind, stört heute niemanden mehr, daß hier ein demokratischer Finanzminister residieren muß. Das Ergebnis dieser Vergangenheitsbereinigung ist eindeutig: Aus dem unliebsamen Mahnmal, an dem man sich reiben mußte, wurde ein Bauwerk, dessen Ursprung mit der Gegenwart in keiner direkten Beziehung mehr steht: Aus Schicksal wird Historie. Derartige Kontinuität war hierzulande bis dato undenkbar. Beide aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Staatswesen zogen ihre Legitimation aus der Abgrenzung gegenüber der Vergangenheit. Wenn Ererbtes nicht ersetzt wurde, suchte man Kontrast. Für den Neuanfang der DDR mußte das Berliner Stadtschloß als Bastion überkommener Obrigkeiten geschleift werden. In Westdeutschland wurde die gläserne Fuge zum gängigen architektonischen Kunstgriff, um Distanz zur eigenen Vorgeschichte zu gewinnen.

Daß sich Deutschland heute restlos zu seinem Vorleben bekennt, läßt sich gleichwohl nicht behaupten. Nicht anders als die Väter und Mütter des Grundgesetzes straften die Kinder der 89er Revolution das Werk der unmittelbar vorangegangenen Generation mit Nichtachtung. Besonders traf es die Bauten der DDR: Was man wie das Außenministerium nicht komplett entsorgte, glaubte man nur nutzen zu können, wenn man es bis zur Unkenntlichkeit überformte. Das beste Beispiel ist das ehemalige Bildungsministerium Unter den Linden, das heute vom Bundestag bewohnt wird. Noch weniger Verwendung als die Gebäude selbst findet der gedankliche Überbau, unter dem sie einst errichtet wurden. Da man in der DDR von der totalen Identität von Volk und Staat ausging, brauchten seine Vertreter keinen extra Dienstsitz. Daher nahm die Volkskammer im Palast der Republik einen ungleich kleineren Teil ein als der populäre Veranstaltungssaal. Mit anderen Mitteln strebte die Architektur der alten Bundesrepublik nach direkter Beteiligung: Hier hatte das Parlament zwar eine eigene Adresse, doch Günter Behnischs Bonner Bundestag verbot sich jedes Eigenleben. Der Pavillon bestand eigentlich nur aus einem Dach. Im Streben nach Transparenz waren alle Wände aus Glas. Schwellenlos gingen Straße und Plenarbereich ineinander über. Chaotische Materialvielfalt stand für gesellschaftlichen Pluralismus. Die Architektur war, wie die Organisation, die sie in Auftrag gegeben hatte, kein Selbstzweck, sondern lebte erst durch die Bürger.

Nimmt man das Versprechen der Bonner Bürgerinitiativ-Baukunst ernst, muß der Reichstag befremden. Hier ist das Parlament auf einen massiven Sockel gehoben. Die reich verzierte Steinfassade wurde auch durch den Umbau durch Norman Foster nicht offener: Ihm fielen alle Veränderungen der Nachkriegszeit zum Opfer, er ersetzte das ursprünglich verwinkelte Innere durch einen einzigen Großraum. Nach wie vor gibt sich der 1894 von Paul Wallot fertiggestellte Bau unverhohlen repräsentativ. Damit kommt er der Verfassungswirklichkeit näher als sein Vorgänger: Nach dem Grundgesetz ist Deutschland heute wie damals keine direkte Demokratie, sondern einer ihrer Stellvertreter.

„Dem deutschen Volke Staat zeigen“ – dieser Maxime, mit der Axel Schultes 1992 seinen Spreebogenentwurf erläuterte, folgen alle Berliner Bundesbauten. Im Medienzeitalter kommt es bei diesem Vermittlungsakt nicht mehr darauf an, daß der Staat und seine Bürger wirklich zusammenkommen, wie es Günter Behnisch in Bonn versuchte. Gefragt ist Medienpräsenz. Beim Berliner Kanzleramt wurde sie sogar zum entscheidenden Gestaltungskriterium: Mehrmals mußte Axel Schultes seinen Entwurf umarbeiten, bis die Forderung nach sekundenschneller Erkennbarkeit im Fernsehen erfüllt war.

Noch deutlicher wird der Wandel von der Bürgerinitiativ- zur Mediendemokratie beim neuen Bundespresseamt. Daß ihr Presse- und Besucherzentrum als erster Baustein der Berliner Republik lange vor dem Umzugstermin eingeweiht wurde, offenbart den Bedeutungszuwachs, den die Regierung der Öffentlichkeitsarbeit beimißt, genauso wie die städtebauliche Komposition: Da dem Architekturbüro KSP Engel und Zimmermann das Privileg zugebilligt wurde, sich nicht an Bauflucht und Traufe orientieren zu müssen, wurde die PR- Zentrale der Bundesregierung inmitten der Friedrichstadt zur absoluten Ausnahmeerscheinung. Die schwarz bedruckten Scheiben, die vor die komplette Brandwand hinter dem Pressepavillon zum Einsatz kamen und allenfalls Ausblick, nicht aber Einblick erlauben, wollen nicht Transparenz herstellen, sondern monumentaler Bühnenhintergrund sein. Überflüssig zu erwähnen, daß die Regierung in Bonn über eine solche Bühne der Selbstdarstellung nicht verfügte.

Teil IV erscheint am 8. Mai: Die Mitte der Metropole