Germanisten ins Netz

■ Das interdisziplinäre Forschungskolleg „Medien und kulturelle Kommunikation“ untersucht die kulturellen Auswirkungen der neuen Medien und will die Geisteswissenschaften beleben

SchülerInnen aus Düsseldorf kommunizierten online mit Gleichaltrigen aus Israel, am Tag nachdem Jitzhak Rabin im November 1995 erschossen wurde. Von den politischen Auswirkungen des Attenats erfuhren sie nicht nur aus der Tagesschau. Bildung bedeutete etwas anders für sie: Durch das Internet wurde Politik im Informatik-Unterricht konkret. Hinzu kam ein Wandel der kulturellen Kommunikation: Die Siebzehnjährigen mußten auf englisch schnell auf die elektronischen Briefe ihrer israelischen PartnerInnen reagieren.

Kultur verändert sich durch Medientechnik: eine Einsicht Walter Benjamins, der bereits 1936 durch die massenweise Verbreitung der Bilder im für ihn neuen Film eine Veränderung der Kultur analysierte („Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“).

Heute werden Bilder, Ton und Texte über das Internet massenhaft verbreitet. Sie verändern das Selbstverständnis der universitären Kulturverwalter, der Geisteswissenschaften. In einem einmaligen Forschungsprojekt werden dreißig Wissenschaftler der Universitäten Aachen, Bonn und Köln die kulturellen Auswirkungen der neuen Medien mehrere Jahre lang untersuchen.

Die interdisziplinäre Besetzung des in Köln gestarteten Forschungskollegs „Medien und Kulturelle Kommunikation“ reicht von traditionellen Fächern wie Judaistik, Kunst- und Literaturwissenschaft bis zu praktischer Informatik, Filmwissenschaft, Medienpsychologie und experimenteller Psycholinguistik.

Der Aachener Informatiker Matthias Jarke betont: Der Computer ist „zu einem Werkzeug (auch Spielzeug) geworden, das Millionen Menschen in einer Art Hieroglyphenschrift bedienen, den Desktop-Ikonen des neuen Pharaos Bill Gates“. Software durchdringe alle Teile unserer Lebenswelt. Neuere Definitionen sähen die Informatik daher als eine „Strukturwissenschaft“, als Vermittler zwischen elektronischen Maschinen und Menschen. Zudem wird der Computer durch das Internet zum interaktiven Medium: Klassische Drucktexte, Bilder, Grafiken und Musik können abgerufen und vom Anwender gemischt werden.

Für Jarke beginnt das Nachdenken über diese neue Kultur der Medien bei der handgeschriebenen Thora, der Schriftrolle der jüdischen Religion mit den fünf Büchern Moses, und den Kommentaren der Rabbis am Rand der Schriftrolle, der Auslegung durch den Talmud. Das sei der erste Hypertext: Ein Wort verweist auf andere Textstellen, die dieses Wort erläutern und dessen Bedeutung ausweiten. Informatiker Jarke wird mit Judaisten diese „Hypertextstruktur“ des Talmud visualisieren und im Netz veröffentlichen – Technik und Geisteswissenschaften arbeiten zusammen.

Eine strikte Trennung von Technik und Kultur, von Grenzen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, sieht auch der Aachener Linguist Ludwig Jäger nicht mehr. Der Sprachwissenschaftler untersucht im Forschungskolleg die Zeichensysteme von der vorliteralen Gebärdensprache bis zu modernen Computerbildern, den elektronischen Wort-Bild-Mischungen – auch Jäger arbeitet mit Informatiker Jarke sammen.

Synergieeffekte sind Ziel des Kollegs. „Wir wollen den Wechsel von sprachlicher zu bildlicher Kommunikation, vom Buch zu digitalen Medien erforschen“, erklärt der Kölner Kolleg-Sprecher, der Germanist Wilhelm Voßkamp, die interdisziplinäre Besetzung.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die von Bund und Ländern finanzierte größte Forschungsstiftung, will mit dem „Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg“ die Geisteswissenschaften neu beleben, die in den letzen Jahren gesellschaftliche Relevanz verloren haben. Mit 2,5 Millionen Mark jährlich fördert die DFG das Projekt, bis zu zwölf Jahren lang. Nordrhein-Westfalen schießt jährlich eine halbe Million hinzu.

Ein Novum des Kölner Kollegs ist seine enge Bindung an die Lehre. Im kommenden Semester wollen die ForscherInnen erste Ergebnisse in einer Ringvorlesung diskutieren. Ein Graduierten-Kolleg mit der Kölner Kunsthochschule für Medien ist ebenso geplant wie Praxisbezug durch eine Zusammenarbeit mit den Kölner Rundfunksendern und dem Projekt zur „Textoptimierung“ mit der Lokalredaktion einer Aachener Zeitung.

Benjamin, der heute nicht mehr über die Flaneure in glasüberdachten Passagen und das neue Massenmedium Film reflektierte, sondern Internet-Nutzer beobachtete, hätte wohl seine Freude daran. Isabelle Siemes