"Online-Lernen wird kommen"

■ Ist die virtuelle Universität überschätzte Schimäre oder bald Gegenwart? Ein Gespräch mit Thomas Sand vom Hochschul-Informationssystem, das die Auswirkungen der neuen Medien auf die deutschen Hochschulen unters

taz: Wie verbreitet sind Multimedia-Methoden an deutschen Universitäten?

Thomas Sand: Im Moment sind die Rahmenbedingungen nicht so, daß ein flächendeckender Einsatz von Multimedia an den Hochschulen möglich ist. Bisher werden die neuen Medien vor allem an Fachbereichen eingesetzt, die nennenswerte Drittmittel haben, fachlich qualifizierte Mitarbeiter und die technische Ausrüstung bereitstellen können. Neuere Untersuchungen vom Hochschul-Informationssystem (HIS), der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und der Bertelsmann-Stiftung schätzen, daß nur sechs Prozent der Wissenschaftler regelmäßig neue Medien in der Lehre nutzen. Damit liegen wir deutlich unter den Vergleichswerten in den USA, Kanada und Australien. Dort liegt der Medieneinsatz in oder ergänzend zur Veranstaltung bei etwa achtzig Prozent.

Wie beurteilen Sie die langfristige Entwicklung?

In Zukunft wird man vermutlich differenzierte Angebote für verschiedene Lerntypen, Lernsituationen oder Zielgruppen haben. Bisher war die Ausbildung mit dem Eintritt ins Jugend- oder frühe Erwachsenenalter abgeschlossen. Doch Bildungs- und Arbeitsmarktexperten weisen darauf hin, daß sich angesichts der immer kürzeren wissenschaftlich-technischen Innovationszyklen die Menschen lebenslang weiterbilden müssen. Phasen der Berufstätigkeit werden immer wieder abgelöst von Phasen, in denen man das Wissen aktualisiert oder ergänzt. Die Hochschulen werden sich darauf einstellen müssen. Wenn Studiengänge über das Internet global angeboten werden, haben die Studierenden mehr Vergleichs- und Wahlmöglichkeiten. Die Hochschulen geraten möglicherweise unter verschärften Leistungs- und Wettbewerbsdruck. Sicherlich werden sich die Hochschulen unabhängig von der konkreten Mediennutzung unter diesen Bedingungen stärker auf die Bedürfnisse und Bildungsziele von zunehmend heterogen zusammengesetzten Studierenden einstellen müssen.

Können die Hochschulen das überhaupt leisten?

Ob der gesamte Prozeß der Wissensgenerierung und -vermittlung in Zukunft ganz in den Händen der Hochschulen bleibt, ist ungewiß. Dazu gehört die Erforschung neuer Wissensinhalte, die Aufbereitung des Wissens in Form von Veranstaltungen oder multimedialen Materialien und seine Vermittlung an Studierende mit Prüfung. Gerade die multimediale Aufbereitung von Lernstoff und der Vertrieb über Netze könnte auch an öffentlich oder privat organisierte Broker-Agenturen abgegeben werden. In den USA haben sich solche Vermittler, die teilweise auch Betreuungs- und Zertifizierungsaufgaben wahrnehmen, etabliert. Bisher sind sie nicht in direkte Konkurrenz zu traditionellen Hochschulen geraten, weil sie sich auf die Wissensvermittlung bei Zielgruppen konzentrieren, die bisher vernachlässigt wurden. Berufstätige, familiär gebundene und immobile Leute zum Beispiel. Die Broker-Einrichtungen sind in der Regel auf eine symbiotische Kooperation mit herkömmlichen Hochschulen angewiesen. Nur dann können sie ihre Kursangebote inhaltlich auf dem neuesten Stand der Forschung halten.

Ist das nicht auch eine Kostenfrage? Werden so nicht Studiengebühren hinterrücks eingeführt?

Der Aufbau von virtuellen Studiengängen ist sehr teuer. Auch von staatlicher Seite wird deutlich gesagt, daß diese Studienangebote nur vorübergehend bezuschußt werden können. Danach müssen die Universitäten neue Einnahmequellen erschließen, indem sie etwa Weiterbildungen für Firmen anbieten oder an anderen Stellen sparen.

Sitzt der Studierende der Zukunft allein in seiner Kammer?

Studienanfänger werden wohl weiterhin nicht auf den herkömmlichen Studienbetrieb verzichten wollen und können. Sie suchen das Lern- und Gemeinschaftserlebnis der Campus-Universität, wo zunächst einmal eine Phase der Sozialisierung und Einübung in wissenschaftliche Arbeitsmethoden und Argumentationsmuster stattfindet. Einen Markt für multimediale Selbstlernprogramme und Online-Studienangebote wird es bei fortgeschrittenen Studien oder in der postgraduellen und beruflichen Weiterbildung geben. Die Erfahrungen der Fernhochschulen zeigen, daß ein zeitlich und räumlich individualisiertes Studium von den Teilnehmern erfolgreich abgeschlossen wird, die sich gut selbst organisieren und durchhalten können. Vorstellbar ist der Einsatz multimedialer Lernprogramme und Kurse auch dann, wenn Leute reguläre Lehrveranstaltungen nicht besuchen können. Teilzeitstudierende zum Beispiel. Oder wo das Lehrangebot vor Ort ergänzt und angereichert werden soll. Dann könnten mehrere Einrichtungen einzelne Kurse oder Studiengänge in Kooperation anbieten oder auslagern. Interview: Karin Hahn