■ Rußlands angebliche Verbundenheit mit Serbien wackelt
: Die schweigende Mehrheit

Ganz Rußland, mit Frau und Maus, badet dieser Tage in sentimentalen Treuebekenntnissen zum serbischen Brudervolk. In vielen westlichen Ausländern in Moskau, die bisher geradezu danach gierten, das russische Volk auf seinem aufhaltsamen Weg in die Zukunft zu begleiten, werden kleinmütige Gedanken an Ausreise wach. Doch bevor wir ihnen nachgeben, sollten wir prüfen, ob der Eindruck nicht trügt.

Wirklich, das Leid der Kosovo-Albaner kommt in den russischen Medien kaum vor. Das Wort „Flüchtlinge“ benutzt man hier vorwiegend in Verbindung in Jugoslawien verheirateten russischen Frauen. Figurieren doch einmal fliehende AlbanerInnen auf dem TV-Bildschirm, ist zwar von „Säuberungen“ die Rede, diese werden aber nach bester sowjetischer Heuchel-Tradition keineswegs Milošević, sondern ebenfalls der Nato in die Schuhe geschoben.

Doch noch gibt es Ausnahmen! Die Tageszeitung Kommersant zum Beispiel fand diese Woche den Mut, vage über „Grausamkeiten“ zu schreiben, von denen „albanische Flüchtlinge“ berichten, und bestellte eine Meinungsumfrage zum Thema. Derzufolge geben weniger als die Hälfte der BürgerInnen Rußlands – 46 Prozent – die Schuld an dem Krieg der Nato und den USA. Ein knappes Drittel macht dafür Kräfte in Jugoslawien verantwortlich – davon 16,7 Prozent die Serben. Wie sähe das Ergebnis erst aus, wenn die Leute richtig informiert wären?

Was tun? Ein gutes Beispiel der Art Aufklärung, die hier vonnöten ist, gab kürzlich Präsident Clinton. Er wandte sich an sein Volk vor dem Hintergrund einer Jugoslawien-Karte und erklärte ihm die geographischen Gegebenheiten. Am wirkungsvollsten wäre hier eine konzertierte Aktion: Mindestens drei westliche SpitzenpolitikerInnen müßten sich gleichzeitig an das russische Volk wenden, ohne falsche Scheu vor dem Overhead-Projektor. Sagen wir einmal: Bill Clinton vor dem Bild eines von den Serben dem Erdboden gleichgemachten Dorfes. Gerhard Schröder vor lebenden Skeletten in einem Konzentrationslager aus dem Bosnien-Krieg und ein möglichst weibliches Mitglied der französischen Regierung vor den Porträts bosnischer Vergewaltigungsopfer.

An der Grundstimmung der sichtbar auftretenden russischen Massen würde sich dadurch gewiß nichts ändern, aber die Diskussion in den Medien würde belebt und merklich differenzierter. Schließlich wäre die schweigende Minderheit der RussInnen gerettet – und zwar vor dem Irrewerden an sich selbst. Barbara Kerneck