"Mama, werden wir jetzt alle sterben?"

■ In Belgrad haben viele sich schon an die Nächte im Luftschutzkeller gewöhnt. Dort führen die Großmütter mittlerweile das Kommando. Sie trösten und umsorgen die verängstigten Kinder und erzählen Gesch

Die erste Nacht im Luftschutzraum. Ein halbaufgeräumter, muffiger Keller, unbequeme Klappstühle, schlechtes Licht, ein schwaches Transistorradio. Zusammengedrängt hocken da die Menschen und wissen nicht, was geschehen wird. Halbweinerlich fragt der siebenjährige Petar: „Werden wir jetzt alle sterben, Mama?“ Während die Mutter überlegt, wie sie ihn beruhigen kann, mischt sich Petars 16jährige Schwester Maria ein: „Quatsch! Millionen sitzen jetzt in den Kellern, und Tausende werden vielleicht draufgehen. Wir nicht, das fühle ich!“ Während sie das sagt, zittert ihr Kinn unter der Stupsnase.

In der vierten Nacht ist das Licht schon besser, es gibt Klappbetten und Luftmatratzen. Einige Bewohner des kleinen Mietshauses campten gerne, andere haben Boote auf der Sawe und von ihrer Ausrüstung das Notwendigste mitgebracht. Ausgeschlafen ist niemand, zwischen zwei Alarmen gibt es stets nur wenige Stunden Pause.

„Wird man auch das Zentrum bombardieren?“ fragten die einen. „Gewiß nicht, die peilen nur militärische Ziele an!“ sagten die anderen. „Die Fehlerquote bei Marschflugkörpern beträgt fünf Prozent!“ erklärt Herr Žikić, Oberfinanzinspektor im Ruhestand und ehemaliger Hauptmann der Partisanen. „Militärisch ist das nicht viel, aber das bedeutet, daß jede 20. Rakete danebenschlägt und...“ „Und?“ fragt jemand aufgeregt. „Man muß eben auch etwas Glück haben“, sagt der alte Ex-Offizier unsicher.

Dann gibt es Giftgasalarm. Eine Nachbarin ruft an und schreit ins Handy des Friseurs aus dem Erdgeschoß. Der teilt sofort mit, was er gehört hat: „Die Nato hat Gasbomben auf Belgrad geworfen!“

Schon klingt es aus dem Radio: Wer Gasmasken habe, solle sie bereitlegen, nasse Tücher nützten auch, und Lebensgefahr bestehe nicht. Was bedeutet das? Auch Herr Žikić hat keine Erklärung. Die Deutschen hätten es nicht gewagt, im Zweiten Weltkrieg Giftgas zu benützen, aber die Nato sei viel schlimmer, sagt er nur.

Erst am Morgen erfahren die Menschen, was geschehen war. Im Visier hatten die Flieger ein militärisches Zeil, ein Depot mit Raketentreibstoff im Dorf Sremčica, zehn Kilometer vom Stadtrand entfernt. Nach der Explosion sind giftige Rauchwolken aufgestiegen, aber glücklicherweise auf unbewohntes Gebiet getrieben worden.

Der Unterricht ist bis nach Ostern ausgesetzt, viele Bewohner des Hauses gehen nicht mehr zur Arbeit, für Brot und Milch muß man Schlange stehen, Großfamilien ziehen in jene Wohnungen, die am weitesten weg von Zielen der Nato-Luftwaffe sind.

Nach und nach übernehmen kriegserfahrene Großmütter das Kommando. Sie trösten und erzählen Anekdoten. Die Kinder erfahren einiges über die Liebschaften ihrer Eltern. Und die Großmütter erinnern daran, daß die Serben schon seit jeher entweder Opfer von Kriegen gewesen sind oder, in diesem Jahrhundert, in Luftschutzkellern gesessen haben. Belgrad war von den Deutschen am orthodoxen Ostersonntag 1941 und von den Alliierten, die deutsche militärische Ziele treffen wollten, am orthodoxen Ostersonntag 1944 bombardiert worden.

Oma Pichler räuspert sich. Sie sagt fast nie etwas, bringt immer nur ein Buch oder zwei in den Keller. Alle schauen sie an, als würde sie jetzt endlich den Bann brechen und etwas erklären. Sie war in Auschwitz und anderen deutschen Konzentrationslagern. Deshalb umgibt sie, zumindest für die Kinder, eine seltsame und furchtbare Aura. Aber sie winkt nur ab und senkt den Blick auf das Buch.

Allmählich gewöhnen sich die Menschen an den Schrecken. Maria geht jeden Tag zum Rockkonzert auf den Hauptplatz. Dieselben Studenten, die vor zwei Jahren monatelang gegen Milošević demonstriert hatten, organisieren jetzt Kundgebungen gegen die Nato. Man trägt T-Shirts mit Zielscheiben und dem Text „Leider bin ich nicht unsichtbar!“ Niemand hat jetzt noch Kraft, den Diktator zu hassen, alle Energien, die man aufbringt, sind gegen jene gerichtet, die einen in die Keller zwingen.

Heute, in der siebenten Nacht, feiert Maria ihren 16. Geburtstag. Im Keller. Mit einer „Luftschutzkellerfliegeralarmparty“. Das alte Gewölbe ist mit Girlanden geschmückt. Jede Familie hat etwas mitgebracht, Mayonnaisesalat, Sandwiches mit Schinken, Plätzchen mit Mandeln... Man ist dem Alarm gegenüber schon gleichgültig, einige Erwachsene begeben sich bald nach oben in ihre Betten. Die Musik wird voll aufgedreht, aber Oma Pichler ist trotzdem unten geblieben, hat das Buch in den Schoß gelegt und beobachtet lächelnd die jungen Paare, wie sie sich im Takt bewegen.

In einem Augenblick, als die errötete Maria eine Pause macht, winkt die alte Frau den Teenager zu sich: „Kind, darf ich dir etwas sagen? Angst hast du keine mehr?“ „Eigentlich nicht!“ „Siehst du. Man gewöhnt sich an alles. Es ist lange her. Ich habe meinen 16. Geburtstag in Auschwitz begangen. Feiern konnte ich nicht, niemand wußte davon...“ Maria schweigt und weiß nicht, was die alte Frau will. Die fährt nach einer kurzen Pause fort: „Aber das ist nicht das einzige, was ich dir sagen wollte. Hast du noch etwas Geduld?“ „Ja!“ sagt Maria. „Denk an Sarajevo! Drei Jahre lang sind die Leute dort beschossen worden. Sie waren in Gefahr, wenn sie Wasser holen gingen. Die Kinder waren in Gefahr, wenn sie spielten. Es waren nicht Flieger in zehn Kilometer Höhe, es waren ehemalige Mitbürger, die auf den umliegenden Bergen saßen und hinunterschossen. Und trafen. Und täglich gab es Tote. Drei lange Jahre. Aber jetzt ist es dort vorbei. Und jetzt ist es bei uns und...“ Die alte Frau schweigt und macht ein Gesicht, als bereue sie, daß sie etwas gesagt hat. „Verstehst du mich?“ „Ich glaube schon“, flüstert das Mädchen. „In Auschwitz, das waren die Deutschen, in Sarajevo, das waren wir, und hier...“ „Ja“, sagt die alte Frau. „Das wollte ich sagen. Wie gut, daß du das verstehst.“ Andrej Ivanji, Belgrad