"Viele sind zerrissen wie ich"

■ Antje Radcke, Parteisprecherin der Bündnisgrünen, über den geplanten Sonderparteitag der Grünen und die Notwendigkeit der Partei, eine klare Perspektive für die künftige Friedenspolitik zu finden

taz: Frau Radcke, der Bundesvorstand hat beschlossen, einen Sonderparteitag einzuberufen. Wollen Sie sich an die Spitze der Kritiker des Nato-Einsatzes stellen, um so dem Unmut die Luft zu nehmen?

Antje Radcke: Wir wollen die Debatte, die jetzt an verschiedenen Ecken öffentlich und nichtöffentlich stattfindet, aufgreifen. Darum geht es, und nicht darum, die Kritik in der Partei, die doch nur die Ängste und Sorgen von weiten Teilen der Bevölkerung und unserer Wählerschaft wiedergibt, offen auszutragen. Kritik abzuwürgen, darum kann es uns wirklich nicht gehen. Das würde die Partei auch nicht mit sich machen lassen. Ziel muß es sein, die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten.

Woran denken Sie?

Wir haben uns an bestimmten Punkten einfach herumgemogelt, und auf Fragen, die auf uns zukamen, keine oder lediglich unzureichende Antworten gegeben. Dazu gehört unter anderem das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Menschenrechten.

Konkret?

Halten wir es etwa für akzeptabel, solche Interventionen, wie die jetzige der Nato gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, unter bestimmten Umständen auch in der Zukunft mitzutragen? Oder lehnen wir sie kategorisch ab? Haben wir die Chance, auch Zwischenlösungen zu finden? Das sind drei Fragen, die ungefähr das Spektrum ausmachen, das uns auf dem Parteitag wohl erwarten wird.

Sie haben im Bundesvorstand als Termin für den Sonderparteitag den 13. Mai genannt. Ist das nicht zu spät?

Früher geht es aus organisatorischen Gründen nicht. Ob Sie es mir nun glauben oder nicht, aber man kann eine Bundesdelegiertenkonferenz nicht in zwei Wochen aus dem Boden stampfen. Wir müssen bestimmte Einladungsfristen einhalten, alle Kreisverbände müssen auf Delegiertenversammlungen ihre Vertreter für den Sonderparteitag wählen. Die Vorbereitung zu einem solchen Sonderparteitag ist ein technisch schwerfälliger Akt. Schon die kurzfristige Suche und Anmietung einer Halle wird nicht ganz einfach sein. Schließlich: Wir wollen ja auch einen gut vorbereiteten Sonderparteitag. Was nicht sein darf, ist, daß wir nur alle zusammenkommen und einmal sagen, was uns so in den letzten Wochen auf dem Herzen gelegen hat, und dann ohne ein konkretes Ergebnis auseinandergehen.

Hoffen Sie nicht auch darauf, daß sich bis dahin die Basis ausdiskutiert hat?

Ganz bestimmt nicht. Die Debatte über die Beteiligung an Interventionen wird ganz bestimmt im Mai nicht überflüssig sein. Auch, wenn wir zu diesem Zeitpunkt hoffen, daß der Krieg im Kosovo dann beendet sein wird.

Wie schätzen Sie die Mehrheitsverhältnisse für den Sonderparteitag ein? Muß Außenminister Joschka Fischer mit einer Niederlage rechnen?

Die Stimmung in der Partei einzuschätzen, fällt mir sehr schwer. Tatsache ist, daß uns zur Zeit viele kritische Briefe erreichen. Meine Gespräche mit Mitgliedern aus Kreis- und Landesverbänden zeigen mir aber, daß es noch keine klare Mehrheit für oder gegen den Nato-Einsatz und die vorausgegangene Zustimmung dieser rot- grünen Regierung dazu gibt. Sehr viele in der Partei sind genauso zerrissen wie ich, wie wir alle.

Soll es auf dem Sonderparteitag einen förmlichen Beschluß über die künftige Friedenspolitik der Grünen geben?

Darum kommen wir meiner Ansicht nach nicht herum. Sonst würden wir uns dem Vorwurf aussetzen: Ihr redet nur. Es geht schon um die zentrale Frage, wie die Grünen auch in Zukunft mit solchen Herausforderungen wie Jugoslawien umgehen. Einfach nur zurückblicken oder den Istzustand beschreiben kann nicht ausreichen. Wir müssen schon darüber streiten, wie wir bündnisgrüne Perspektiven für zukünftige Fälle erarbeiten. Dazu gehört meines Erachtens auch, wie wir mit dem Problem der Kriegsflüchtlinge, des Asyls aus politischen Gründen, umgehen. Interview: Severin Weiland