Ratlosigkeit beherrscht Ostermarsch

■  Mit 12.000 Teilnehmern wurden die Erwartungen der Veranstalter weit übertroffen. Viele ältere Deutsche liefen gemeinsam mit Serben von der Neuen Wache zum Marheinekeplatz, um gegen die Nato-Angriffe zu protestieren

Wären da nicht die Plakate und die ernsten Gesichter der Menschen, könnte dies auch eine Geschichte von Berlin und einem Feiertag im Frühling sein. Eine Geschichte von dem Zauber Unter den Linden, Schinkels Neuer Wache und den Songs der Sechziger. Doch Schinkels Neue Wache ist nur Treffpunkt und die Plakate sind keine Werbung, sondern prangern führende deutsche Politiker an, eins zeigt Bundeskanzler Schröder als Hitlerfratze. Zum Ostermarsch in Berlin sind gestern nach Polizeiangaben rund 12.000 Demonstranten gekommen. Selbst der Veranstalter wurde in seinen Erwatungen übertroffen.

„Wir sind seit dem Nato-Doppelbeschluß nicht mehr demonstrieren gegangen“, sagt ein Mann in schwarzen Jeans und dunkler Lederjacke, der die fünfzig schon erreicht hat. Er glaubt nicht, daß im Konflikt mit Serbien wirklich alle politischen Mittel ausgereizt worden seien. Dann schaut er sich um, während er leicht erhöht auf den steinernen Stufen steht: „Nur mit wem tut man sich bei dieser Demonstration plötzlich zusammen?“ Und meint damit marxistische und sozialistische Splittergruppen, die Flugblätter verteilen.

Die größeren im Bundestag vertretenen Parteien nehmen bis auf die PDS an diesem Tag am Ostermarsch offiziell nicht teil: Nur vereinzelte Anhänger der Grünen und der Jusos halten ihre Fahnen hoch. Die alten politischen Feindbilder und Gräben stimmten für viele Demonstranten nicht mehr, sagt einer ratlos. „Das schlimmste ist, daß das alles unter einer sozialdemokratischen Regierung passiert“, findet ein SPD-Parteimitglied.

Natürlich tragen einige Plakate wie „Die Nato wird 50. Feuerwerk über Serbien“ oder „Deutsche Truppen weg vom Balkan“, doch skandieren die deutschen Demonstranten während des zweieinhalbstündigen Zuges zum Kreuzberger Marheinekeplatz auffallend selten einen Slogan wie “Nato raus“.

Was ist Propaganda der westlichen Bündnispartner? Was ist mit den flüchtenden Kosovoalbanern? Einige kommen aus diesem gedanklichen Dilemma schwer heraus, andere interpretieren die Lage so wie eine Frau aus Ostberlin: „An dem Flüchlingselend sind die Nato-Bomben Schuld. Sonst niemand“, sagt die Frau, die man sich in ihrem hellen eierschalenfarbenen Rock und der weißen Bluse auch genauso am Alex in einem Eiscafe vor drei Kugeln gemischt mit Sahne vorstellen könnte.

Einer, der sich offensichtlich sicher ist, zu wissen, was Recht und Unrecht ist, ist der frühere Chef des militärischen Geheimdienstes und PDS-Sympathisant, EX-Admiral Elmar Schmähling. Vom „Regen des schwarz-gelben Militarismus“ sei die Bundesrepublik in „die Traufe eines rot-grünen Angriffskriegs geraten“, wird er später sagen.

Doch jetzt, während des Demonstrationszuges, sind diese harten Vorwürfe noch nicht öffentlich gefallen. Während an der Spitze des Zuges gerade Goethes Faust zitiert und persifliert wird, wenden sich weiter hinten andere Stimmen lautstark an die Öffentlichkeit: „Kosovo ist serbisch“, rufen die Jugoslawen, die innerhalb des Demonstrationszuges zwei Blöcke gebildet haben. Mit der ganzen Leidenschaft und Kraft ihrer Körper recken sie die Arme in die Höhe: die Männer, die Frauen, die Alten, die Jungen. Hier beherrscht die Emotion, die unmittelbare Betroffenheit und der Zorn über die Bomben der Nato auf Serbien die Menschen. „Ich schäme mich, daß meine Kinder deutsch aufgewachsen sind“, sagt eine Frau, das Bild von Milosevic hochhält.

Vorne Goethe, hinten der Kampf um Land. Eine junge Frau fragt ein wenig später: „Haben die Friedensdemonstranten wirklich so viel mit den Serben zu tun?“ Und sie meint, ob nicht das Ziel, die Natobombadierung zu stoppen, zwar gleich sei, sonst aber alles anders. Wie pazifistisch sind die Serben, könnte sie noch fragen. Doch da ist sie schon ein paar Meter weiter geeilt - für den Frieden demonstrieren. Annette Rollmann