Die Kunst, Grenzen zu neutralisieren

■ Ein ruhiges Plädoyer für ein Miteinander der Kulturen: Claudio Magris' „Die Welt en gros und en détail!“ ist Reisebuch, Erinnerungsprosa, Regionalstudie, Kulturgeschichte und noch viel mehr

Es fällt schwer, ein Buch zu charakterisieren, dessen Originaltitel („Microcosmi“) unübersetzbar ist und der deshalb besser auch unübersetzt geblieben wäre. „Die Welt en gros und en détail“ ist es jedenfalls nicht. Das verweist auf Handelsvertreter, die Bestellisten abgleichen, nicht aber auf jene einzigartige Mixtur aus akribisch- mikrokosmischer Beobachtung und elegant-ausgreifender Vielfalt, die dieses Buch ausmachen. Was für ein Buch? Reisebeschreibung, Erinnerung, Regionalstudie, Kulturgeschichte? Von allem ein Stück und doch etwas ganz anderes.

Claudio Magris, Schriftsteller, Germanist, Kulturtheoretiker, in Triest geboren und – mittlerweile sechzig – seit längerem wieder dort lebend, blickt zurück: auf die nähere und fernere Umgebung, auf das Leben, auf seine Herkunft, auf Orte, Regionen, Menschen, Erlebnisse. Neun – scheinbar zufällige – Kapitel über Landschaften aller Art (das Triester „Café San Marco“, die „Lagune“ von Grado, die Wälder der Julischen Alpen, kroatische Felsinseln, die „Collina“ bei Turin, ein Südtiroler Dorf oder den Stadtgarten von Triest) fügen sich zu einem eindrucksvollen Ensemble aus Wahrnehmungsfragmenten, Kurzporträts, Historie, Lebens- und Leseerinnerung. Was für ein Buch!

In Momenten des Innehaltens und Bilanzierens entstanden, zwingt diese Synthese aus beiläufiger Erinnerung und konziser Kulturgeschichte ihre LeserInnen zu einer ähnlichen Haltung. Zeit und Muße sind unabdingbare Voraussetzung für die Lektüre. Nicht schaden kann zudem ein guter Atlas (die ADAC-Karte des europäischen Autobahnnetzes reicht nicht aus), um Magris' sprunghaft-verschlungenen Streifzügen durchs eigene Leben folgen zu können – und durch die geographischen und intellektuellen Regionen, die dieses Leben geprägt haben.

Das Buch besteht aus zahlreichen Schichten der Wahrnehmung, der Erinnerung, der Sprache. Auf ihnen siedeln sich skurrile und alltägliche Geschichten an: vom bäuerlichen, lesenden Großonkel im Friaulischen Dorf, vom Glück der Tante in einer jahrzehntelang nicht vollzogenen Ehe, von den aktuellen und ehemaligen Stammgästen im „San Marco“. Daneben stehen atemberaubende Naturschilderungen, unerhörte Lesesplitter, Detailskizzen von öffentlichen und privaten Orten. Das Ganze verdichtet sich zu einer Kultur- und Geistesgeschichte des südlichen Kernlands der längst zerfallenen habsburgischen Monarchie – und zur philosophischen Reflexion über Wurzeln und Perspektiven einer Region, die modellhaft die Schwierigkeiten und Möglichkeiten eines zwistiglich-vereinten Europas durchlebt und durchlitten hat.

Man kann das Buch als literatur-, architektur- oder kulturgeschichtliches Kompendium lesen; man kann es als Almanach über elementare Orte (Wasser, Wald, Stadt, Dorf, Café) nutzen. Früher oder später aber wird man konfrontiert mit dem Thema: Dieses leise, fast private Nachsinnen eines Intellektuellen über ein Leben, von dem ein Abschnitt mit dem Tod der Frau, der es gewidmet ist, zu Ende ging, gipfelt in der Konfrontation mit dem Alter und mit seiner unausweichlichen Konsequenz. Das klingt pathetischer als es ist. Erinnerter oder befürchteter Tod ist zwar ein Leitmotiv, aber spätestens im Schlußkapitel, in der apotheotischen Verknüpfung von Anfang und Ende, verliert er seine Schrecken.

Sicher gibt es Passagen, in denen Bildungsballast und Informationsflut die Leselust zu ersticken drohen. Letztlich aber setzen sich die vital-skurrilen Geschichten durch und die wunderschönen Bilder – von Landschaften, Menschen und Ideen. So entsteht eine Ethnographie Mitteleuropas, die – in der Verknüpfung von privater Wahrnehmung und repräsentativer Darstellung – nicht Klischees vom ethnischen und kulturellen Schmelztiegel wiederbelebt, sondern einfach von den Möglichkeiten des Lebens im Grenzland erzählt: „Vielleicht besteht die einzige Möglichkeit, die tödliche Macht der Grenzen zu neutralisieren, darin, immer auf der anderen Seite zu fühlen, auch für sie Partei zu ergreifen.“ Ein ruhiges Plädoyer für Multikulturalität, gehalten von einem, der – in seinem Denken, in seinem Schreiben und in seinen Themen – diese Multikulturalität zeitlebens gelebt hat. Hannes Krauss

Claudio Magris: „Die Welt en gros und en détail“. Deutsch von Regni Maria Gschwend. Hanser Verlag, München 1999, 340 S., 39,80 DM