Die Verblendung

Vom Schrecken eines Krieges, der sich als moralische Erzählung zu verstehen gibt: Wie der Blick die Bilder konstituiert  ■ Von Georg Seeßlen

In Kriegszeiten, so scheint es, verlieren unsere Bildermaschinen, denen wir ansonsten in einer dumpfen Mischung von Mißmut, Vertrauen und Resignation überantwortet sind, rasch ihre Verläßlichkeit. Wahrscheinlich, weil wir dann merken, wie sehr wir auf sie angewiesen sind. Anstatt unser Wissen über die Welt und das, was in ihr der Fall ist, zu vermehren, sind sie selber an die Stelle dieses Wissens getreten. Panisch verlangen wir ihnen Bilder ab, zu erklären, was wir auf allerschmalstem Grat von Moral und Bewußtsein angerichtet haben, und zugleich können wir diesen Bildern nicht wirklich glauben. Und doch obsiegt noch jedesmal die Sehnsucht nach der Gewißheit über die Skepsis. Früher oder später glauben wir daran, daß die Bilder einen Sinn haben.

In Kriegszeiten wird aus dem Grauen in den Medien das Bild, und aus den Medienbildern wird in der populären Kultur das Genre; aus dem Genre wird die Erzählung zum Krieg, eine offene oder geschlossene, eine melodramatische, tragische oder bizarre Erzählung. Wie der Krieg sich seine Bilder schafft, und wie sich die Interessen in einem Krieg ihre Bilder schaffen, so schaffen sich die Erzählungen, die Partikel von Propaganda, Neugier und Mythisierung, einen Text, der eine Erzählgemeinschaft bilden soll. Noch muß diese nicht in einen ideologischen Gleichklang münden; die Erzählung erlaubt durchaus verschiedene Lesarten, im Augenblick jedenfalls noch. Aber diese Erzählgemeinschaft prinzipiell zu verlassen, ist nicht mehr anders möglich als mit einem so radikalen Frontenwechsel wie, sagen wir, bei Peter Handke, der – von uns aus gesehen – nicht nur die Grenze nach Serbien, sondern auch die Grenze zum Wahnsinn überschritten hat.

Die Erzählung hat den Rang der Wirklichkeit eingenommen, und nun ist die Produktion der Bilder, ganz im Gegensatz zum chaotischen und offenen Beginn des Krieges, wieder eindeutig. Die Bilder dienen der Erzählung, wie die Erzählung der Gemeinschaft dient. Die Frage, wie wahr die Bilder sind, hebt sich in der Erzählung auf, die sie generieren. Müssen wir nicht jene Serben, die in den deutschen Städten gegen den Nato- Einsatz demonstrieren, für verblendet und wahnsinnig halten, da sie doch die Bilder von der Vertreibung der albanischen Bevölkerung im Kosovo, direkte, unverstellte, gewiß nicht „gefälschte“ Bilder, einfach nicht zur Kenntnis nehmen? Sie widersprechen unserer Phantasie von der Wirksamkeit der Bilder; sie scheinen für sich weder zu verblenden noch die Verblendung auflösen zu können. Ist es doch der Blick und nicht das Bild, was die Welt in uns konstituiert? Unausdenkbar indes, wenn wir selber einer solchen Verblendung, einem solchen Wahn zum Opfer fallen würden.

Unmerklich zunächst, und doch unaufhaltsam wird aus der Wahrnehmung der zunächst so chaotischen Bilder, aus dem Genre, das aus der seriellen Wiederkehr der gleichen Bilder und ihrer Bedeutung entsteht, und schließlich der Erzählung, die ihnen abgerungen wurde, wieder eine Ideologie.

Wie man das macht, demonstriert unser Außenminister Fischer in der Pressekonferenz, in der Mitte zwischen Kanzler und Verteidigungsminister, entschlossen, die beste moralische Performance abzuliefern. Und er macht das natürlich nicht so plump, wie jener Pressesprecher unseres Militärs, der – zitiert nach dem wahrhaft gespenstischen Einstieg der jüngsten „Monitor“-Sendung – dafür plädiert, die Nato-Angriffe nicht mehr „Bombardierung“ zu nennen.

Nein, mit Sprachregelung allein ist in unseren Tagen nichts mehr zu gewinnen. Außenminister Joschka Fischer dagegen liefert der Erzählung einen Titel: „Deportation eines ganzen Volkes“. Zusammen mit seiner Geste sichtlicher Erregung ergibt dies eine scheinbar eindeutige Erklärung. Noch am gleichen Tag macht diese Textualisierung des Geschehens die Runde, verbreitet sich, verzweigt sich, wird zum Passepartout. Die Bilder haben ihre Unterschrift gefunden.

Über den inneren Gehalt dieser Erzählung also ist vollkommene Einigkeit erzielt. Nicht nur, wer sich außerhalb dieser Erzählung stellt, sondern auch, wer darauf beharren möchte, daß es sich um ein komplexeres Geschehen handelt, zu dem es möglicherweise auch ein „andererseits“ gebe, macht sich verdächtig, gehört nicht mehr zu „uns“. Die Diskussion um den Krieg ist damit in den nachgeordneten Rang einer Erörterung der Mittel herabgestuft, sie wird die Gesellschaft nicht mehr spalten. Pazifistische Dissidenz dagegen wird im Namen der Moral abgeurteilt, mit den Bildern des deportierten und geschundenen Volkes.

Welche Bilder aber produzieren diese Flüchtlingsströme? Es gibt drei Einstellungen, die immer und immer wiederkehrend nur mit anderen Akteuren gefüllt sind: die panoramatische Aufnahme zugleich buntgekleideter und abgerissener Massen, die die grünen Hügel bevölkern. Die Nahaufnahme der einzelnen, die von ihren schrecklichen Erlebnissen berichten, und schließlich die Halbnahaufnahmen der Menschen in den Lagern, die nach Nahrung verlangen oder sich in irgendeiner Weise im neuen Elend zurechtzufinden versuchen. Das Schicksal der Vertriebenen gefriert vor den Kameras; es wird ihnen offenkundig immer nur der gleiche Zusammenbruch abverlangt. Nie gibt es die Möglichkeit, wirklich deren Geschichte zu hören, nie geben diese Einstellungen den Menschen die Ruhe, sich vor- und darzustellen. Sie werden ohne Umschweife in die Ikonographie und Mythologie der Kriegserzählung eingebaut.

Sehr eindrucksvoll besorgt das die Inszenierung während des Ostersegens durch den Papst, in dessen Verlauf Bilder der Flüchtenden, Leid und Elend, eingeschnitten sind. Musik dazu, die ergreift und nichts erklärt, von den Menschen ist nichts zu hören als ihre Tränenausbrüche. Sie sind Bild, sie haben keine Stimme. „Deutlicher kann man die Spannung nicht machen, in der wir in diesen Tagen stehen“, sagt der deutsche Sprecher dazu und spricht von dem neuen Leben, dem schönen Wetter, das Gleichnis für die christliche Hoffnung sei, und die Montage des Flüchtlingselends sei Bild der Schuld, der wir verhaftet bleiben. Deutlicher kann man auch nicht machen, wie Menschen zu Objekten gemacht werden, wie ihre Bilder und ihre Geschichten enteignet werden. Die Bilder haben sich vollkommen der Genre-Erzählung untergeordnet. Und diese Geschichte hat kein anderes Subjekt als unsere eigene Wahrnehmung.

Daß es eine moralische Erzählung in den Bildern dieses Krieges gibt, scheint nun alle anderen Gesichter und alle anderen Widersprüche dieses Krieges in den Hintergrund gedrängt zu haben. Aber wie alle Erzählungen so muß auch diese wenigstens in ihrem Subtext wieder etwas von ihren verborgenen Quellen und von ihren verborgenen Absichten preisgeben.

Die moralische Erzählung behauptet, die Nato habe die Bombardierung zum einen begonnen, um die Gewalt gegenüber den Kosovaren zu beenden, und weil man zum anderen eine „Weltordnung“ zu verteidigen habe, die über die klassischen Vorstellungen von Politik hinausgeht, und bei der an die Stelle nationaler Interessen solche von globalem Interesse getreten sind, wiederum definiert durch die moralische Erzählung der Menschenrechte. Darüber hinaus – weniger offensichtlich und doch entscheidend – geht es um die Interessen der international agierenden Konzerne, die ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu den lokalen Diktatoren und politischen Verbrechern dieser Welt haben. Die sind in der Tat immer zugleich ihr Geschöpf, solange, bis sie sich – wiederum auf beiden Ebenen – als Störfaktoren erweisen: nämlich durch die Verunsicherung der international fließenden Kapital- und Investitionsmittel und durch die Produktion der Bilder, die den moralischen Konsens dieser Weltordnung in Frage stellen, jener neuen Weltordnung, von der auch der Papst spricht. Es ist der Traum von einem friedlichen, humanen, kontrollierten Kapitalismus, der Weg nach dem neoliberalen Fieberausbruch, und es ist die moralische Erzählung von Rot-Grün und ähnlichen politischen Bündnissen in den westlichen Gesellschaften, die nur insofern funktioniert, als sie das diskursive Konzept der Aufklärung zugunsten einer Moralisierung des Makro- und des Mikrosystems der Macht aufgibt. Daher fragen unsere Bilder und unsere Erzählungen nicht mehr, ob dieser Krieg vernünftig sei, sie fragen nur, ob er moralisch gedeutet werden kann.

Das Problem des Vietnamkrieges war die „Unsichtbarkeit des Feindes“. „Charlie“ verschwand stets, sobald er ins Blickfeld gekommen schien, und am Ende war die Erzählung dieses Krieges die einer großen Paranoia: Man habe, so versuchte die amerikanische Gesellschaft in ihren Büchern, Bildern und Filmen zu begreifen, Krieg vor allem gegen sich selbst geführt. (Weshalb denn auch schließlich die „Versöhnung“ eine interne Angelegenheit war.) Aber es blieb dem Feind ein Rest des „ganz anderen“, des asiatischen Kommunismus zum Beispiel, und ein ganz anderes war auch noch Saddam Hussein, auch wenn man nun sozusagen auf der politischen Oberfläche begreifen mußte, daß das militärische Potential, das man bekämpfte, selbst geschaffen war.

Nur wenig noch bleibt in Serbien von etwas „ganz anderem“; es gibt in diesem Land weder Zeichen, noch Rituale, noch Ideen, die denen der Angreifer vollkommen fremd wären; nicht nur die Macht, sondern auch das Wissen, die Verkehrsformen, die „Sprachen“ dieses Diktators sind von den Vertretern eben dieser neuen Weltordnung produziert worden. Seine nationalistischen, rassistischen und ideologischen Verbrechen sind eben die, die mindestens ein Drittel aller Wähler in den europäischen Gesellschaften von ihrer politischen Herrschaft verlangen. Milošević ist nicht die soundsovielte Wiederkehr Hitlers, er ist das perfekte Abbild der Haiders, Le Pens, Schönhubers, eines populistisch-rassistischen Zweigs, der sich aus der neuen Weltordnung keineswegs vertreiben lassen will; er erfüllt die Träume, die sich in der neuen populistischen Rechten nur verklausuliert äußern. In einer dritten Variation also führt der Westen nun, während er seine äußeren Integrations- und Allianzpolitik fortsetzt und nebenbei eine innere Desintegration erfährt, Krieg gegen sich selbst. Eine Allianz aus Ökonomie und moralischem Integralismus versucht, dem fundamentalistischen Nationalismus und mörderischen Ethnismus den Krieg zu erklären, und kann ihn sich selbst nicht mehr recht erklären.

Dazu paßt, daß die jugoslawische Armee weitgehend unsichtbar bleibt. Sie ist, wie wir aus dem Fernsehen erfahren, von vornherein und aus historischen Traditionen eine Armee des Untergrunds. Sie lebt und kämpft in einem unterirdischen System, das durch die Bomben nicht zu erreichen ist. Aber was zum Teufel ist denn dann das Ziel jener Zerstörungen, die wir keine Bombardierungen mehr nennen sollen? Eine symbolische Geste, von der wir verwundert zur Kenntnis nehmen müssen, daß sie auf der anderen Seite der Grenze als Wirklichkeit empfunden wird?

Der Krieg entsteht freilich nicht zuletzt aus eben diesem Widerspruch, daß sich die humanistische Moralität und das Primat der Wirtschaft, das einzige Projekt, das die westlichen Gesellschaften für die neue Weltordnung anzubieten haben, nicht vereinen lassen werden, so elastisch sich die Moral auf beiden Seiten auch zeigen mag. Die neue Weltordnung sieht einen freien Markt vor, der jede Anwendung nicht-militärischer Sanktionen, den wirtschaftlichen Boykott und sogar die Verhinderung beständiger Aufrüstung unmöglich macht. Sie produziert nach den Phantasmen des Kalten Krieges einen anderen Metatext für den Krieg: die Bewaffnung der Peripherien bis zum Punkt ihrer Explosion. Endlose Ströme von Waffen, Drogen, Blut, Prostitution, Verblendung und humanitärer Katastrophenhilfe, die stets eben die Kanäle benutzen, die sich der Markt geschaffen hat.

So ergibt das Verschwinden der Form wie der Räumlichkeit in dieser Erzählung ihren Sinn. Es ist alles mittendrin, gefährlich nahe, nur ein paar hundert Meter weiter. Die Natur erweist sich auch hier als abweisend; das Wetter ist zu schlecht, um „mobile Einheiten“ zu bombardieren, und was gegen den Einsatz von Bodentruppen spricht, ist vor allem das unwegsame Gelände. Das Territoriale verweigert sich, Grenzen verschwimmen. Der Krieg will nur um Menschen geführt werden – und produziert doch beständig Nachrichten von seiner anderen, der ökonomischen Seite: Wie lange können wir uns diesen Krieg noch leisten? Was kostet eine Cruise-Missile? Wer nimmt die Flüchtlinge auf? Die Allianz führt mit großer Geste den moralischen Krieg und zankt sich doch schon um seine Kosten.

So stellt sich diese moralische Erzählung vielleicht selbst vom Kopf auf die Füße. Was im Zeichen der Moral – und gegen die Vernunft soviel wie gegen die Menschlichkeit – begonnen wurde, wird im Zeichen der wirtschaftlichen Vernunft und der Logik der Macht vielleicht beendet. Der Mythos der neuen Weltordnung aber ist in diesem Krieg und in den Bildern, die wir von ihm haben können, zerbrochen. So wie die schimmernde Waffe und das menschliche Elend keine Einheit mehr bilden, so brechen auch die Elemente der neuen Weltordnung auseinander, das wirtschaftliche Primat und die moralische Geste.

In den Medien wird aus dem Grauen des Krieges ein Genre, und daraus eine Erzählung, die sich nicht mehr befragen lassen will. Aus der Skepsis wird in der Zeitung ein Feuilleton. Wenn wir Glück haben, handelt es davon, daß sich auch in Kriegszeiten das Konzept der Aufklärung nicht vollständig unterdrücken läßt. Und davon, daß wir dieser neuen Weltordnung nicht trauen.