■ Der Westen muß jetzt die Kosovo-Flüchtlinge aufnehmen
: Die Grundwerte stehen auf dem Spiel

Wieder ist es Slobodan Milošević gelungen, die westliche Welt auszutricksen. Mit der Entscheidung, alle Albaner des Kosovo aus dem Lande zu werfen, hat er alles riskiert: Er hat das Konzept von Rambouillet ausgehebelt, die Nato zu einem Haufen nervöser Generäle degradiert, die westlichen Politiker zu Hampelmännern herabgewürdigt. Es wird dauern, bis wieder eine konsistente westliche Politik gegenüber dem serbischen Führer entwickelt werden kann. Und noch länger, bis die Führung der Kosovo-Albaner wieder in der Lage ist, sich zu versammeln.

Niemand hatte im Vorfeld genug schmutzige Phantasie gehabt, sich eine derartige Reaktion auf die Nato-Bombenangriffe vorzustellen. Obwohl die serbische Strategie der verbrannten Erde und des Völkermords, die die Vertreibung von mehr als zwei Millionen und den Tod von 200.000 Menschen allein in Bosnien zu verantworten hat, bekannt ist – die Vorgehensweise von Milošević hat doch wieder alle überrascht. Selbst der Aufmarsch seiner Armee im Kosovo zu einem Zeitpunkt, als die Konferenz von Rambouillet noch nicht zu Ende war, hat die Politiker des Westens nicht eindringlich genug gewarnt.

Die Deportation der Kosovo-Albaner hat nicht nur unendliches Leid gebracht. Sie zeigt auch, daß der größte Teil der Bevölkerung der Provinz die Geisel Milošević' geblieben ist. Jede militärische Aktion würde jetzt das Leben dieser Menschen direkt bedrohen – die serbischen Soldaten werden nicht zögern, auf die über 20 Kilometer langen Schlangen der Wartenden zu schießen. Der Nato sind die Hände gebunden, Luftangriffe auf serbische Militärkolonnen könnten mit tausendfachem Mord bezahlt werden.

Mit den Menschen an der makedonischen Grenze wird zudem die Zündschnur an die fragile Balance der makedonischen Gesellschaft gelegt. Denn die über ein Drittel der Bevölkerung zählende albanische Minderheit kann nicht mehr lange stillhalten, wenn die Lage der Flüchtenden eskaliert. Indem die makedonische Regierung die Flüchtenden darben läßt, erweist sie sich nicht nur als menschenverachtend, sondern als direkte Unterstützerin der Politik Milošević'. Damit aber kippt der westlichen Politik zunächst ein weiteres Standbein weg: Das Ziel der Nato-Aktion war ja, den Kosovo-Konflikt einzudämmen und ein Überschwappen auf die Nachbarländer zu verhindern. Nun steht Makedonien kurz davor, in den Strudel der Auseinandersetzungen gerissen zu werden. Albanien ist in Gefahr zu kollabieren, und die aufmüpfige Führung des zweiten jugoslawischen Teilstaates, Montenegro, steckt in einer äußerst schwierigen Lage.

Milošević hat alles riskiert. Und bringt damit die serbische Nation in eine Situation, die jener der Deutschen nach dem Zusammenbruch des Naziregimes ähnlich ist. Auf Generationen hinaus werden die Serben erklären müssen, wie es zu den begangenen Verbrechen gekommen ist. Denn Serbien kann diesen Krieg nicht mehr gewinnen.

Die europäischen Länder müssen zwar jetzt tun, was sie auf jeden Fall vermeiden wollten: Flüchtlinge aufnehmen. Aber nur Zusagen über große Kontingente können die makedonische Regierung umstimmen. Und nur, wenn die deportierten Menschen gerettet werden, kann sich das Blatt wieder wenden. Es rächt sich zwar, daß die westliche Welt oftmals mit halben Entscheidungen und Kompromissen operiert. Indem der Einsatz von Bodentruppen ausgeschlossen wurde, hat man Milošević die Möglichkeit gegeben, das zu tun, was er getan hat. Aber mit der Vertreibung der Albaner hat er die großen Mächte der Welt ernsthaft und mit allen Konsequenzen herausgefordert. Nicht nur die USA – auch die Nato kann sich jetzt eine Niederlage nicht mehr leisten.

Die politischen Koordinaten werden zur Zeit erneut fixiert. Der noch in Rambouillet abgelehnten Forderung der UÇK, die Albaner mit Waffen auszurüsten, wird offiziell nur noch leise widersprochen – in Wirklichkeit werden Waffen bereitgestellt. Nicht einmal der Einsatz von Bodentruppen ist mehr ausgeschlossen: In den USA und in Großbritannien wird er gar öffentlich gefordert. Wenn die Vertriebenen in Sicherheit sind, wird der Krieg erneut eskalieren. Die Albaner sind bereit, in das Kosovo zurückzugehen und selbst zu kämpfen. Milošević hat sich wie in der Vergangenheit als großer Spieler erwiesen, nun aber hat er überreizt. Denn jetzt stehen endgültig die Grundwerte der Zivilisation auf dem Spiel. Erich Rathfelder