Die Pflicht der Pazifisten

Zu Ostern ist Krieg – und die Friedensbewegung wird nur sacht wiederbelebt. Feiertagsmarschierer zwischen Tradition, Rechtfertigung und ihrem Gewissen  ■ Aus Bremen Jens Rübsam

Wieder Ostern. Wieder Marschzeit, Mahnwachenzeit, Kundgebungszeit. Armin Stolle, 65, hat eine Telefonkette organisiert. Diesmal ist Krieg. Mitten in Europa. Und Deutschland mischt mit. Armin Stolle greift zum Hörer. Anrufe bei denen, die schon lange nicht mehr gekommen sind. Anruf auch bei den Eisenhauers.

Bis dahin, kurz vor Ostern: Deutschland schweigt. Die Friedensbewegten schweigen. Kaum Proteste, als die ersten Bomben und Raketen auf Jugoslawien niedergehen. Jetzt stehen die Ostermärsche bevor. Die Ostermärsche! Diese mächtigen Ausgüsse an pazifistischem Aktionismus. Tausende trieb in den 60er Jahren der „Kampf dem Atomtod“ auf die Straße, Zehntausende in den 80ern der Nato-Doppelbeschluß.

Im vergangenen Jahr wurden 50 Demonstranten in Bremen gezählt, in den Jahren zuvor waren es nicht viel mehr. Dabei war Krieg – in Tschetschenien, Ruanda. Diesmal aber macht Deutschland mit, erstmals seit 1945. Armin Stolle, friedensbewegt seit einem Vierteljahrhundert, mobilisiert, telefoniert. Auch mit den Eisenhauers. „Die haben sich“, sagt er müde, „etwas zurückgezogen.“

Ein Reihenhaus am Rande Bremens, ruhige Lage, kleiner Garten. Es ist Feiertag, ein warmer, ein gemächlicher Tag. „Wir waren“, erzählt Günther Eisenhauer, 69, „Nuklearpazifisten“. „Wir sind erst aufgewacht“, fährt seine Frau fort, „als die Pershing II und die Cruise-Missiles in Deutschland stationiert werden sollten.“ Aufgewacht, als der Krieg unmittelbar wird. In der Garlstedter Heide, nordwestlich von Bremen, wird Anfang der 80er Jahre die größte US-Kasernenanlage errichtet: 4.100 GIs, 400 Panzer, 500 Lastkraftwagen und Haubitzen, die auch Nuklear-, Neutronen- oder Giftgassprengköpfe verschießen konnten. Zur „Speerspitze der Nato“ avanciert die Garlstedter Heide. „Wir haben den Atomkrieg vor der Haustür“, sagen die Bremer und gehen auf die Straße.

Die Eisenhauers gehören dazu, sie marschieren zu Ostern – für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Sie ist eine der Bremer Marktplatzfrauen, die einmal in der Woche in der Innenstadt gegen Krieg und Gewalt demonstrieren, beide engagieren sich im Bremer Friedensforum, so lange, bis sie „demonstrationsmüde“ werden.

Sie steht auf, geht hinaus aus dem Wohnzimmer, sucht ihr lila Tuch, jenes lila Tuch, das sie zu friedensbewegten Zeiten getragen hat. Sie findet es nicht mehr. Sie ruft herein: „Ich habe es wohl kürzlich vernichtet.“

Wer will richten über die Eisenhauers? Gut, ihr Aktionismus hat sich verändert, wie bei vielen. Nicht mehr Marktplatzfrau sein. „Ich hatte das Gefühl, das nutzt nichts mehr.“ Nicht mehr Demonstranten sein. „Die sind immer aktuell gegen etwas. Aber wenn das Etwas vorbei ist, sind auch die Demonstrationen vorbei.“ Nicht mehr Ostermarschierer sein. „Gegen was oder für was demonstrieren? Der Kalte Krieg war vorbei“, sagt sie. „Wir wollten uns konstruktiveren Dingen zuwenden“, wirft er ein. Gründung einer Vereinigung zur Förderung des Petitionsrechtes. Engagement bei einem Hilfswerk im Norden Brasiliens. Beispielsweise.

Und dann, letzte Woche, der Anruf von Armin Stolle. Krieg ist wieder unmittelbar. „Jetzt ist es Zeit, daß wir wieder auf die Straße müssen“, sagen Eisenhauers.

1991, am Golf flogen Bomben und Raketen, da hieß es, die totgesagte Friedensbewegung erlebt eine Renaissance. Zehntausende demonstrieren gegen Krieg, halten Mahnwachen und beten für den Frieden. Acht Jahre später, in Jugoslawien fliegen Bomben und Raketen, da freuen sich die Ostermarsch-Organisatoren über 350 Menschen in Bremen, der Stadt, in der 1960 der bundesweit erste Ostermarsch stattfand. 350! Immerhin. Armin Stolle freut sich über jeden einzelnen.

Der Mann, der aussieht wie Heinz Erhardt und den man am liebsten auffordern möchte, ein Späßchen zu machen, sitzt in der Villa Ichon, in Bremen eine Art „Bürgerrechtszentrale“, und schaut zum Fenster hinaus. „Man müßte“, sagt er, und es klingt wie ein Hilfeschrei, „mit der gesamten Friedensbewegung aufbrechen nach Makedonien, in das Kosovo. Man müßte dort aufmarschieren als zivile Menschen und schreien: ,Hört auf! Hört auf!‘ Er weiß um seine Ohnmacht, um die Ohnmacht der Friedensbewegung.

Draußen, auf dem Goetheplatz, sitzen feine Leute und nehmen Frühstück ein. Die ersten Werder- Fans grölen durch die Straße, das wichtige Nordderby steht an, Bremen gegen Hansa Rostock.

Drinnen sitzt ein alter Mann und weint. Geboren in Schlesien, vertrieben mit zehn, der Vater in Gefangenschaft gestorben, die Großväter im Volkssturmeinsatz gefallen, Christ, Sozialdemokrat, Austritt 1993, „die SPD wurde immer angepaßter“, Lehrer, der im Matheunterricht die Josefgeschichte vorliest, ein Pazifist ist er, der beste Pazifist, den es gibt. Jeder, der Armin Stolle kennt, spricht so von ihm. „Nirgendwo ist Krieg eine Lösung“, sagt er. „Dies ist ein einseitiger Krieg, der zum Ausprobieren neuer Waffensysteme genutzt wird. Die Nato wird 50. Sie will ihre neue Strategie testen.“ Er stockt. Es scheint, als ob er Bilder an sich vorbeiziehen sieht. Bilder der Vertreibung aus Schlesien. Bilder der Vertreibung von Kosovo-Albanern. „Allein die Vorstellung, daß es sowas heute noch gibt“, sagt Armin Stolle nach einer Weile.

Er bricht auf. Gleich beginnt die Kundgebung vor dem Rathaus. Er nimmt sein Fahrrad, schiebt es langsam durch die Stadt. Trifft einen Bekannten, der letzte Woche aus der SPD ausgetreten ist. „Eine Frage des Gewissens“, sagt dieser. „Den erklärten Massenmord konnte ich nicht hinnehmen.“

Samstag vormittag, der Marktplatz, die „gute Stube“, wie es hier heißt. Die Ostermarschkundgebung. 350 Leute. Viele Plakate. Mahnende Brecht-Gedichte. Ein paar Serben unter den Demonstranten, ein Schild ist zu sehen: „Finger weg vom souveränen Staat Jugoslawien“. Schon vor einer Woche hatte es bei einer Demonstration Irritationen gegeben: Rechte jugoslawische und linke Gruppen in einem Zug; alle gegen Nato-Einsätze, aber, heißt es aus den Reihen der Linken, „das dürfe nicht gleichbedeutend mit einer Solidarisierung mit Nationalisten sein“.

Ekkehard Lentz, 45, will auf keinen Fall mit rechten Serben gegen den Krieg protestieren. Nun steht er doch in der ersten Reihe, nah am Mikrofon, jahrelang war er „Hauptamtlicher für den Frieden“, Sprecher der Deutschen Friedensunion, Sprecher des Bremer Friedensforums. Seine Visitenkarte weist ihn heute als Pressesprecher eines Bremer Sportvereins aus. Auch das hat etwas zu sagen.

Lentz ist wie die Friedensbewegung selbst: nicht wissend, wo sein, wo ihr Platz ist. Ist es Pflichterfüllung zu marschieren? Vielleicht. Einst demonstrierte er im Frieden gegen den Krieg. Jetzt ist Krieg, und daheim, da kann er keinen Frieden finden. Vielleicht demonstriert er auch aus Tradition und weil er wirklich Pazifist ist. Oder ist es Rechtfertigung vor sich selbst? Womöglich. Einst kritisierte er die Pershing-II-Raketen im Westen der Republik, tolerierte aber die SS 20 in der DDR. Er marschierte im Westen zu Ostern, aber er fragte nicht laut nach, warum das im Osten verboten ist. Er nickte, als die DDR ihm sagte: „Unsere staatliche Politik ist Friedenspolitik.“ Im Westen verweigerte er den Kriegsdienst, im Osten hörte er die Kindergartenkinder singen: „Wenn ich groß bin, gehe ich zur NVA“ – er stellte sich keine Fragen. „Ich bin kein Parteigänger der DDR gewesen“, sagt Ekkehard Lentz nun etwas trotzig. Selbstvorwürfe kamen bei ihm nach der Wende fast ebenso schnell auf wie herauskam, daß die westdeutsche Friedensbewegung von der DDR finanziell unterstützt wurde, auch sein Arbeitsplatz bei der Deutschen Friedensunion.

Wer will richten über Ekkehard Lentz? Er blättert in vergangenen Zeiten. Fotos von Demos, noch mehr Demos. Fotos von Diskussionsrunden, von Aufenthalten in der UdSSR. „Ich will nicht nur noch der Geschichtenerzähler sein“, sagt er plötzlich, als habe er eine ähnliche Frage erwartet. Daß es heute so etwas wie ein antimilitaristisches Gewissen in Deutschland gibt, ist der Friedensbewegung und Menschen wie Lentz zu verdanken. Wie auch, daß es überhaupt noch Ostermärsche gibt, verbunden mit den Idealen, wie sie Ekkehard Lentz für sich definiert: Gewaltverzicht, keinen Krieg, Achtung von Minderheiten. Ideale, mit denen er sich nunmehr am besten bei der PDS aufgehoben fühlt.

Die PDS, die Wächterin des Pazifismus? Ihr klares Nein zum Krieg hat ihr zahlreiche Freunde unter den Friedensbewegten verschafft. Silke Lieder, die stellvertretende Bremer Landesvorsitzende, registriert Zulauf – und kommt ein wenig zu spät zur Ostermarschkundgebung. Die Worte sind schon fast gesprochen, die Brecht-Texte schon gelesen, das Grölen der Werder-Fans ist wieder zu hören. Das Bremer Friedensforum hält Silke Lieder, 28, für einen „geschlossenen Kreis, der sich nicht verjüngt, der das Monopol auf den Frieden gepachtet hat“. Den Ostermarsch als Ausdrucksform der Friedensbewegung hält sie für „überholt“. – „Aber frag nicht, was ich sonst vorschlagen könnte“, sagt sie kokett.

Auf ihren Schultern wackelt Jelle, ein lustiger Kerl, drei Jahre alt. Letztens erst hat er gefragt: „Mama, was ist Krieg?“ Silke Lieder hat es ihm erklärt. So schwer ist es nicht, die Wahrheit der PDS ist einfach: „Angriffskrieg. Auf souveränen Staat. Völkerrechtswidrig. Deutschland ist wieder wer. Wirtschaftliche Interessen“ – die Worte wirbeln wie Schneeflocken darnieder. „Jelle findet den Krieg auch Scheiße“, sagt Silke Lieder.