Über hunderttausend Flüchtlinge warten an der makedonischen Grenze auf Einlaß. Sie haben kaum Brot, kaum Wasser, keine Zelte. Die Seuchengefahr steigt. Manche sterben vor Erschöpfung. Das ist das Schlimmste, was sie in den langen Kriegsjahren auf dem Balkan gesehen haben, sagen selbst abgehärtete Reporter und Helfer. Aus Blace Erich Rathfelder

Ein Kampf ums bloße Überleben

Blaß und abgemagert, die Babies im Arm, die Kleider voller Schmutz – eine Gruppe Frauen kommt über die Grenze aus dem Kosovo nach Makedonien. Kein Lächeln, kein Zeichen von Freude. Und doch gehören die Frauen zu den Glücklicheren: Sie sind in Sicherheit.

Ein Blick über Grenzposten hinaus genügt, um zu erfassen, was sich hier ereignet. Zehntausende kampieren auf einer Wiese am Fluß, die Menschen kauern unter Plastikplanen, suchen Schutz vor den Regenschauern. Kinder weinen, die einen rufen verzweifelt nach Hilfe, die anderen sind still in sich gekehrt. Alle warten darauf, endlich die Grenzstation Blace passieren zu dürfen. Doch abgefertigt werden nur wenige.

Freiwillige Helfer fahren mit Treckern, die mit Wasserflaschen und Brot beladen sind, zu den Wartenden. Kaum angekommen, werden die Traktoren von Hunderten von Menschen umringt. Um jeden Leib Brot, um jede Flasche Wasser wird gerungen. Eine geordnete Verteilung gibt es nicht.

Die serbischen Polizisten hätten nicht nur das Geld geraubt, sie hätten auch die Verpflegung beschlagnahmt, als sie die Bewohner Prištinas aus ihren Häusern vertrieben. Das sagen manche der Deportierten. Vor allem diejenigen, die in Güterwaggons gepfercht in einer 24stündigen Fahrt hierhergebracht wurden, sind von den Strapazen gezeichnet.

Auch der in Kosovo und Makedonien bekannte Schauspieler Beni Kastrati gehört zu denen, die am letzten Donnerstag mit dem Zug an diesen Grenzübergang gebracht worden sind. Er berichtet über die vielen Menschen im Waggon, über die Angst und den Durst. Ihm half der Umstand, daß er schon vor Jahren einen makedonischen Paß beantragt hatte. Und daß er hier einen makedonischen Polizisten traf, der sich an ihn erinnerte. Der half ihm, über die Grenze zu gelangen.

Es sind rund 40.000 Menschen auf der Wiese. Sie bilden den Kopf einer Menschenschlange, die 30 Kilometer weit in das Gebiet des Kosovo reichen soll. Vielleicht sind es 120.000, vielleicht auch 150.000 oder sogar mehr Menschen, die hier seit Dienstag letzter Woche darauf warten, die Grenze überqueren zu dürfen. Doch die Hoffnung ist trügerisch. Makedonische Soldaten lassen niemanden passieren. An der Grenzabfertigungsstelle ist ein einzelner Beamter damit beschäftigt, die Wartenden zu registrieren. Ein Beamter für über 100.000 Menschen.

Mitarbeitern humanitärer Organisationen gelang es, zu dem weiter entfernten Teil der Menschenschlange vorzustoßen. Wie Marcel Neudeck, ein Mitarbeiter der deutschen Nothilfeorganisation Cap Anamur, berichtet, gibt es dort weder Brot noch Wasser. Andere Helfer haben gesehen, wie Menschen Wasser aus dem Fluß tranken, in dem auch Exkremente schwammen. „Die Gefahr heißt Typhus“, sagt eine Mitarbeiterin von „Mediziner ohne Grenzen“.

Endlich öffnet sich der Schlagbaum. Vier junge Männer versuchen, eine in eine Decke gehüllte Gestalt zu einem Notarztwagen zu bringen. Es ist eine alte Frau, die schießlich auf der Bahre liegt. „Wir können nichts mehr tun“, sagt der Notarzt. „Sie ist schon tot.“ Bis zum Samstag abend starben 39 Menschen, jede weitere Stunde wird ihre Opfer finden, meint der Arzt. „Wir wissen nichts über die Lage weiter hinten in der Schlange.“ Einige Frauen berichteten den Krankenschwestern, die Toten würden dort neben der Straße begraben.

Hunderte von Menschen stehen an der Straße und hoffen, im Gewühle Verwandte und Freunde zu erkennen. Viele Familien wurden auseinandergerissen. „Meine Mutter und mein Vater sind dort, zwei Schwestern und ein Bruder“, sagt eine junge Frau, die sich als Mitarbeiterin einer internationalen Organisation in Skopje aufhielt, als die Deportationen in Priština begannen. Sie sucht vergebens. Nicht einmal mit einem Fernglas kann sie ihre Verwandten ausfindig machen.

Die erschöpften Frauen und Kinder, die gerade über den Grenzposten gekommen sind, haben inzwischen in einem Bus Platz genommen, der sie weiter in eines der Flüchtlingslager bringen soll. In welches, wissen sie nicht. Obstsäfte werden verteilt, Wurst, Brot, Bananen. Der zweijährige Ernad lutscht genüßlich an der Frucht. Vier Kinder im Alter von zwei bis acht hat seine Mutter durch die Gefahr und schließlich durch die Grenze geschleust. „Vier Tage in diesem Dreck, vier Tage voller Angst“, die 30jährige Lehrerin hat Tränen in den Augen. Sie blickt besorgt auf die Menschenmenge hinter der Grenzabfertigung. Ihr Mann sei noch auf der anderen Seite. Er habe eine Frau mit Kind nach vorne gelassen und muß nun weiter warten.

Ein paar Kilometer entfernt in Richtung Skopje haben Nato-Einheiten eine Zeltstadt aufgebaut. Wie Major Jan Seraph erklärt, könnte die Nato den Abtransport von 5.000 Menschen organisieren. „Wir können sofort helfen.“ Die makedonische Regierung habe das aber bisher nicht genehmigt. Auch in dem Dorf Cepcisce, das drei Kilometer entfernt von Tetovo in Richtung Grenze liegt, ist ein Flüchtlingslager aufgebaut. In 36 Stunden haben deutsche Pioniere auf einer Schlammwiese eine Zeltstadt errichtet, mit Duschcontainern, Toiletten und einem Hospital. 4.000 Menschen können hier aufgenommen werden, doch bis zum Sonntag abend waren lediglich 300 angekommen.

Auch bei dem zweiten Grenzübergang bei Jazhince werden die Deportierten am Grenzübertritt gehindert. Am Samstag wurden lediglich 83 Personen durchgelassen. Die Schlange der Wartenden soll um die 20 Kilometer lang sein. Bis zu 50.000 Menschen warteten hier, schätzen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.

Als vor Tagen die Grenzen noch offen waren, konnten die Flüchtenden in albanischen Familien der Region Tetovo unterkommen. „Die Hilfsbereitschaft ist beeindruckend“, sagt Abourauf Pruthi, Vorsitzender der makedonisch-albanischen Hilfsorganisation El Hilal. Seit Donnerstag aber blockiert die makedonische Regierung systematisch den Grenzübertritt der Flüchtenden. Sie will internationale Garantien für die Aufnahme dieser Menschen in den westlichen Ländern. „Die Makedonier wollen zudem prinzipiell keine Albaner ins Land lassen“, erklärt Nevzat Halili, ein bekannter Politiker in Makedonien, „weil sie fürchten, damit würden die Albaner die Bevölkerungsmehrheit in diesem Land erlangen.“ In Skopje wird politisch Druck ausgeübt. Eine US-Delegation ist ebenso wie Diplomaten der EU bemüht, den Deportierten zu helfen. Nur, die Menschen in der Schlange können nicht mehr lange warten, bis eine Entscheidung fällt.