Das Auge des Kinos

In memoriam Stanley Kubrick – das Absolute und sein Konstrukteur im Abaton  ■ Von Birgit Glombitza

Einmal war sie da. Die Unendlichkeit oder sowas ähnliches. Stanley Kubrick hat sie 1968 auf die Leinwand geholt. In seinem 2001: Odyssee im Weltraum stieß er durch Räume, die kein Mensch (im Kino) zuvor gesehen hatte, ribbelte am Zeitfluß, und errichtete in x-dimensionalen Unmöglichkeiten, in denen Lösung und Paradox, Schuld und Unschuld, Tempo und Stillstand dasselbe werden, ein neues Reich des Schauens. Zwischen der Pupille des Space-Odysseus Bowman und dem spiegelnden Zyklopenauge des Computers HAL entfaltet Kubrick die Kulturgeschichte allen Erkenntnisdrangs, aller technologischer Eschatologien und aller Sehnsucht nach Unsterblichkeit.

In 2001 ist es die Maschine selbst, die eine Dialektik der Aufklärung liefert, die zurückkehrt zum Knochen und heim in das Reich der Mythologie. Hier schaut sie mit HALs rotglühender Linse zurück ins Objektiv. Das Kino sieht sich selbst. Ein Spiel der Reflexe und Blicke, das sich in Kubricks Gesamtwerk immer wieder neu miteinander vernetzt. Bis aus Projektionen Irrsinn wird, oder ein Traum, oder eben Kino wie Shining, Dr. Seltsam oder Wie ich lernte die Bombe zu lieben, Barry Lyndon oder Clockwork Orange.

Sähe man Kubricks Filme in chronologischer Reihenfolge und ohne Unterbrechungen, käme der Kinovorhang einem monströsen Augenlid gleich. Vor der Schlußeinstellung in 2001 etwa, also vor dem aufgezoomten Blick eines unschuldigen Astralbabies schließt es sich, um sich zwei Jahre später beim Anblick von Alex' kaltem, von falschen Wimpern krähenartig umrahmtem Auge in Clockwork Orange wieder zu öffnen. Und so plumpst der Zuschauerblick von der Vision friedlicher Unendlichkeit in einer Superzukunft zurück in dumpfes prähistorisches Affentum.

Alex, das ist der Inbegriff des archaischen Triebwesens. Der Mensch im Urzustand. Kein Anstand bremst seine Tritte in den Unterleib, kein Gewissen seinen Genuß an Demütigungen. Mit einer psychiatrischen Behandlung, der berüchtigten Ludovico-Methode, mit Beethovens Neunter und mit brachial zum unbedingten Hinschauen aufgeklammerten Augen soll dem Vergewaltiger und Totschläger die Zivilisierung im Schleudergang zuteil werden. Und weil Alex' Wesen nun einmal von spontanen Aktionen und gewaltigen Phantasien geprägt ist, liegt sein Erlebnishorizont unweigerlich mit den Eigenschaften des Mediums Film in enger Nachbarschaft. Den alles entscheidende Konfrontationstest, der über Alex' hoffnungsvoll antherapierte Sozialverträglichkeit befinden soll, läßt Kubrick dann auch passenderweise im Kinosaal stattfinden. Das Uhrwerk der Konditionierung wird seinen Triumph über den Instinkt, nach der verbotenen Orange zu greifen, jedoch nicht lange feiern können. So will es jedenfalls Kubricks Fatalismus, der an eine unauflösliche Einheit von Willensentscheidung und unkrontollierbarem Schicksal glaubt.

In Barry Lyndon bindet Kubrick 1976 den Verlust des aufklärerischen Glaubens an ein tröstendes, rationales System ebenfalls an die Zutaten einer menschlichen Tragödie, die sich aller Logik entziehen. Der Alkohol umnebelt am Ende den Blick des seelenlosen Helden und die Ratlosigkeit seinen Verstand. Das mörderische Tagewerk der Könige wie Friedrich des Großen und die Albernheit übertriebener Duellrituale fügen sich in der Verfilmung von Thackerays gleichnamigem historischen Abgesang zu einem ebenso spöttischen wie melancholischen Monumentalgemälde. Das Licht der Wahrheit ist hier nicht stärker als ein funzeliger Kerzenschein. Und um den ohne zusätzliche Beleuchtung einzufangen, entwickelte Pedant Kubrick aus einem NASA-Linsensystem ein perfektes Objektiv für das fast Dunkle.

Das filmische Werk des leidenschaftlichen Schachspielers und kühlen Formalisten Kubrick erzählt einen kulturhistorischen Zyklus des Sehens, des Wissens, der Macht. Überall findet sich die kalte Symmetrie unerträglicher Ordnungssysteme. In Hotelzimmerfluren, in Teppichmustern und Gartenanlagen. Der Horror steckt in der Zahl, er hockt im System. Vollkommenheit kann die Hölle sein.

Auch um das zu zeigen wollte Kubrick den perfekte Film. Und dafür muß ein einsamer und unwirscher Amateur wie er mühsam über viele Fehlerberge ziehen, langwierige Experimente auf sich nehmen und eine Verbissenheit an den Tag legen, die ihm nicht gerade viele Freunde machte. Der Schauspielerin Shelley Duvall, die in Shining alle Hände voll zu tun hat, ihren irren Gatten zu überleben, brachte Kubricks Pedanterie den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde ein. 127 mal mußte sie schreiend und heulend mit dem Baseballschläger auf der Treppe herumwedeln. Methoden, die auf die Dauer einsam machen. Aber sogar das kam Kubrick ganz gelegen.

Nach seinem Erfolg mit 2001 siedelte Kubrick, der 1928 als Sohn eines jüdischen Arztes in der New Yorker Bronx auf die Welt kam, nach Europa. 30 Kilometer vor London zog er auf einen Landsitz, um endlich Welt und Menschen auszusperren. Dort starb er am 7. März im Alter von 70 Jahren. Mehr als 19 Filme hat der manische Perfektionist in 49 Jahren nicht vollenden können.

Sein letztes Projekt Eyes Wide Open nach Arthur Schnitzlers Traumnovelle kommt im Sommer in die amerikanischen Kinos. Ursprünglich nur als ein „kleiner Zwischenfilm“ gedacht, bevor sich Kubrick an AI, einen Epos über künstliche Intelligenz, machen wollte. Ein Film ohne Menschen sollte es werden. Einer für Kubricks inneres Auge ist es nun geblieben.

Uhrwerk Orange: Do, 8. April, 17.15 Uhr. Barry Lyndon : So, 11. und So, 18. April, 11 Uhr; Mo, 19. April, 16.30 Uhr, Abaton