Ethische Säuberung, nachträglich

■ Ein geschlossener Energiekreislauf macht rot-grüne Träume wahr

„Da ist etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf, außer er wollte in die Fratze der eigenen Geschichte schauen“, sprach Rudolf Scharping kurz nach Kriegsbeginn.

Feiner Satz. Kann man zusammenknüllen, in eine Zahnlücke pappen und bei Bedarf ausspukken. Bestimmt hat auch mancher Serbe dafür Verwendung, wenn er jetzt mit weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster bzw. unter dessen Trümmern hervorguckt.

Und wer hierzulande hinschaut, der hat sich nicht nur mit den Bildern von der Grenze und aus Belgrad herumzuschlagen, der muß unweigerlich auch in die Fratze des deutschen „Verteidigungsministers“ und also in die der eigenen Gegenwart schauen.

Da ist nicht mehr viel übrig vom liebenswerten Loser, der einst beim Radfahren auf den Kopf fiel und dem jeder einmal vors Schienbein treten durfte. An seine Stelle ist etwas getreten, das an frühe Zombiefilme erinnert. The night of the living dead. Der müde Tod. Berichterstatter schwärmen von einer unkaputtbaren grauen Wand aus „Entschlossenheit‘‘, die da vor ihnen säße. Noch vor Monaten durften sie darüber witzeln, daß, ehe Scharping jemandem den Krieg erklärt, der Feind längst durchs Brandenburger Tor defiliert. Heute ist man beeindruckt, daß der Mann zum Kriegführen allenfalls einen, seinen Moralkodex, aber keine Erklärung benötigt, weder eine protokollarische an den Feind noch eine pragmatische an die eigene Gefolgschaft.

Seit Tagen würgt Rudolf Scharping ersatzweise Worte wie „Deportation“, „Genozid“, „Konzentrationslager“, „Hitler“ hervor, um mit derlei wiedergekäuter Verbalpampe seine Jungen zu füttern. Er tut dies so kontinuierlich, als hätte er in besseren Zeiten ein Depot angelegt.Wer Derartiges noch vor einigen Wochen in den Mund zu nehmen wagte, hatte sich anschließend sehr gründlich die Zähne zu putzen. Die Militärs präsentieren ihre Raketentreffervideos mit dermaßen Dunst im Schritt, daß man Angst um jedes Schlüsselloch haben muß. Scharping können diese kurzen Filme über das Töten nicht stimulieren. Noch ist nicht geklärt, ob seine historische Mission in der ethischen Säuberung europäischer Politik um jeden Preis besteht. Spaß macht es ihm jedenfalls nicht. Wer will, kann ihm das zugute halten. Und wer nicht will, heißt heute wenigstens nicht mehr Vaterlandsverräter, sondern gilt lediglich als pazifistischer Trottel. Er guckt lt. Fischer den Grausamkeiten nur zu oder schließt lt. Scharping davor die Augen, statt seinen Teil dazu beizutragen: „Sieh, mein Junge, die paar Hanseln mit den Plakaten da unten, das sind dieselben, die sich nicht kümmern, wenn der Nachbar seine Frau vermöbelt. Dein Onkel ist da aus anderem Holz. Er vertrimmt nicht nur den Nachbarn, sondern gleich das ganze Haus.“

Um seine eigenen Greuel rechtfertigen zu können, besäuft sich Scharping bis zur Besinnungslosigkeit mit denen der anderen. Die Nachricht, daß Rugova wiederauferstanden ist, dürfte ihn ambivalent berührt haben. Das Stadion in Pritina ist leer. Aber es gibt Schlimmeres. Und es ist genug davon für alle da. Für die Dampfhammerdiplomatin Madeleine Albright, für das Clownsgesicht Jamie Shea und für Rudolf Scharping, den braven Rächer ohne Furcht und Tadel.

Kindern wird ihr letztes Spielzeug geraubt, sagt er. Tags darauf erzählt er von der Mutter, die ihr totes Kind im Arm trägt. Er heuchelt nicht. Er meint es ehrlich. Er meint es gut. Besser könnte es niemand meinen. Doch besteht sein isotonischer Energiedrink nicht aus Friede, Freude, Eierkuchen. Er saugt seine Kraft allein aus jeder tatsächlichen und vermeintlichen Bluttat serbischer Milizen, um diese aufsteigende Hitze an hochstrategischen, bisweilen durchaus weichen Zielen abzuarbeiten, von deren Schicksalen sich wiederum Miloevic nährt. – Ein geschlossener Energiekreislauf. Kraft-Wärme-Kopplung. Rot-grüne Träume werden wahr. Sollte sich Miloevic jedoch als exakt der erweisen, als der er unermüdlich angekündigt wird, dann könnte die Antwort auf einen Bodenkrieg eine totale Mobilmachung sein.

Hinterher könnten alle Selbstbestimmungsmaximalisten – es liegt ihnen ja schon solange auf der Zungenspitze – endlich Auschwitz herausschreien. Es wäre – nach dem 27. Januar 1945 – die zweite Befreiung. Um deretwillen muß Miloevic auch zwingend mit Hitler verglichen werden, und nicht – viel präziser – mit seinem alten, von Deutschland gehätschelten Kumpan Tudjman, der unter Verwendung der Krajina-Serben eine atemberaubende Vertreibungs- und Mordbrennleistung vorgelegt hat.

Serben-Hitler. Albaner-Auschwitz. Scharping, Schröder, Schlauch und Fischer verhindern nachträglich die Verbrechen ihrer Väter und Großväter. So kann es gehen. André Mielke

Wer nicht will, heißt heute nicht mehr Vaterlandsverräter, sondern gilt lediglich als pazifistischer Trottel