: Auferstehung deutscher Tugenden
Das äußerst glimpfliche 3:3 im Halbfinal-Hinspiel bei Dynamo Kiew ebnet Bayern München trotz eklatanter spielerischer Defizite den Weg zum Gewinn der Champions League ■ Von Matti Lieske
Berlin (taz) – Hochmut kommt vor dem Fall, ist man versucht zu sagen, doch bei den Münchner Bayern scheint das ehrwürdige Sprichwort diesmal nicht zuzutreffen. Nachdem die Mannschaft von Ottmar Hitzfeld bei Dynamo Kiew ein 3:3 erreichte, anstatt, wie es verdient gewesen wäre, mit ungefähr 1:5 zu verlieren, steht dem Gewinn der Champions League nichts mehr im Weg. Der ukrainische Meister mit seinem übervorsichtigen Trainer Waleri Lobanowski, der schon 1988 mit einem der besten Sowjetteams aller Zeiten das EM-Finale gegen die Niederlande verlor, weil er zu wenig riskierte, macht nicht den Eindruck, als ob er das fatale Resultat beim Münchner Halbfinal-Rückspiel in zwei Wochen ausbügeln kann. Und daß der mutmaßliche Finalgegner Juventus Turin nach zwei Fehlversuchen in diesem Jahrtausend noch ein Europacup- Endspiel gewinnt, ist so wahrscheinlich wie eine dritte Amtszeit von Bill Clinton.
Es sei denn, Zinedine Zidane kommt seinem historischen Auftrag nach und läßt den auf den Bayern lastenden algerischen Fluch noch einmal wirksam werden. Das Stigma des ewigen Finalverlierers ist der Franzose, dessen Eltern aus Algerien stammen, bei der WM ja glorios losgeworden. Vorausgesetzt, daß Juve das 1:1 im Halbfinal-Hinspiel bei Manchester United als Basis des Weiterkommens nutzt, könnte Zidane am 26. Mai in Barcelona durchaus in die Fußstapfen – oder besser: Fersenabdrücke – seines Quasi-Landsmannes Rabah Madjer treten. Der algerische Stürmer des FC Porto besiegelte 1987 im Landesmeisterfinale von Wien mit seinem legendären Hackentrick zum 2:1 eine der verheerendsten Niederlagen in der Vereinsgeschichte des FC Bayern.
Die heutige Situation des Klubs ist durchaus vergleichbar mit 1987. Damals verloren die Münchner in der gesamten Bundesligasaison nur ein einziges Spiel, wurden souverän Meister und wähnten sich nach einer Dekade internationaler Mißerfolge und einem rauschenden Halbfinal-Triumph gegen Real Madrid wieder im Kreis der absoluten europäischen Spitzenteams. Die Niederlage von Wien warf sie zurück in den Abgrund des Mittelmaßes, und seither versucht Manager Uli Hoeneß mit wechselnden Trainern, dem Leerkauf ganzer Talentschuppen sowie der Inkorporierung diverser echter und vermeintlicher Weltstars die Scharte von 1987 auszuwetzen und endlich wieder den Titel aller Titel zu holen.
Derzeit ist erneut viel die Rede vom besten Bayern-Team seit den ruhmreichen Kaiser-Tagen in den Siebzigern, die Bundesliga schaut ehrfürchtig dem Siegeszug der Münchner zu und selbst die vermeintlichen Verfolger aus Leverkusen und Kaiserslautern betreten den Rasen des Olympiastadions mit derart zitternden Knien, daß Manager Uli Hoeneß sein vergnügt-höhnisches Grinsen schon vor dem Anpfiff aufsetzen kann. Die Sache hat nur einen Haken: Für dieses in den Himmel gelobte Bayern-Team ist die Meisterschaft längst nicht genug. Der Europacup muß her, und wenn diese Mission mißlingt, war alles für die Katz.
Nur dumm, daß man (noch) nicht in jeder Champions-League- Runde gegen Bundesliga-Kollegen antreten kann. Der Auftritt der Münchner am Mittwoch abend in Kiew zeigte nämlich kraß, daß alles, was in der Bundesliga so überirdisch wirkt, in Europas Spitzenregionen rapide an Glanz verliert. Die schnellen Dynamo-Angreifer wirbelten die schwerfällig wirkende Abwehr um den – allerdings starken – Lothar Matthäus durcheinander wie jüngst Spaniens Kicker die der Österreicher oder, wenige Wochen vorher, die USA in Jacksonville ein gewisses Ribbeck-Team. Fast jeder ernsthafte Angriff führte zu klaren Torchancen. Besonders die Außenverteidiger Babbel und Tarnat stellten unter Beweis, daß es ihnen einfach an internationaler Klasse fehlt, Scholl ging unter, und auch Stefan Effenberg bekam Grenzen aufgezeigt, die für ihn in deutschen Stadien nicht existieren. Allein die Schlampigkeit der Kiewer im Abschluß, die absurde Einigelungstaktik ihres Coaches in der zweiten Halbzeit und die bodenlose Dummheit bei gegnerischen Freistößen verhinderten eine Katastrophe für den Bundesliga-Souverän. Der ist auch in Phasen grober Desorientiertheit gefestigt genug, nicht in Panik zu verfallen, beharrlich seine Chancen zu suchen und Geschenke dankend anzunehmen – unerläßliche Eigenschaften für ein Team, das die Champions League gewinnen will.
Eine völlig fehlpostierte Zweimannmauer gegen Tarnat, eine leicht deplazierte Dreimannmauer gegen Effenberg und eine Jancker- Brachialaktion in der Nachspielzeit verhalfen den Bayern in Kiew zur Wiedergeburt und ihren Protagonisten zu gewohnter Zungenfertigkeit. Niemals sei ihm während des Spiels bange geworden, log Coach Hitzfeld und verbreitete ebenso wie Lothar Matthäus ungeniert die trügerische Litanei von „größeren Spielanteilen“, „Feldüberlegenheit“ und fortgeschrittenem „Sich-niemals-Aufgeben“. Die gefürchteten deutschen Tugenden feierten verbale Auferstehung und ermöglichten die Umdeutung eines spielerischen Debakels in einen grandiosen Triumph. Hochmut kommt vor dem Fall? Zinedine Zidane, übernehmen Sie!
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