Mein Uni-Tyrann

■ Im Kino, in der Sonne, immer mäkelte er

Während meines Studiums hatte ich einen Begleiter, den außer mir niemand zu Gesicht bekam. Komisch, dabei war er ständig da. Uns verband eine Art Haßliebe – er konnte ohne mich nicht sein, ich ohne ihn nicht studieren. Wenn ich morgens im Bett blieb, um noch ein Mützchen Schlaf zu nehmen, piesackte er mich. Wenn ich im Park die Frühlingssonne genießen wollte, statt in der Bibliothek ein Seminar vorzubereiten, mäkelte er. Lange Disconächte oder Kinoabende waren ohne sein leises Schimpfen nicht denkbar. Mein schlechtes Gewissen war allgegenwärtig.

Fragt man meine Eltern nach meiner Studienzeit, ist immer von paradiesischen Zuständen, ja, einem Schlaraffenland die Rede. Kein Wunder, auch sie haben meinen täglichen Begleiter nie kennengelernt. Dabei haben sie ihn mitproduziert. Höflich-bestimmt fragten sie: „Wie lange, denkst du, wird dein Studium noch dauern? Nicht daß wir drängeln wollen, Gott behüte.“ Wenn ich ihnen den Kerl dann vorstellen wollte, schauten sie durch ihn hindurch: „Das halbe Jahr Ferien, unglaublich viel Freizeit. Studentin müßte man sein.“

Nach einigen Jahren wurde es stiller in unserer Beziehung: Er zog sich zurück, nachdem ich angefangen hatte, meine Brötchen auch während des Semesters zu verdienen. Als ich den Job für den endgültigen Einstieg ins Examen aufgab, gab es ein kurzes Revival – dann wich er der Examensarbeit, den Klausuren, endlosen Sitzungen, in denen ich mich auf die mündlichen Prüfungen vorbereitete. Ein Wiedersehen nach dem Examen blieb mir erspart.

Ich stieg ins erste Praktikum ein, dann ins nächste, dann in den Job, von dort in den nächsten – 40-Stunden-Wochen sind seither die Normalität. Manchmal sehne ich den Begleiter wieder zurück, der mich das Studium hindurch tyrannisiert hat. Denn erst durchs geregelte Arbeitsleben weiß ich unsere Beziehung nachträglich zu schätzen. Noch ist nicht alles verloren mit uns beiden. Meine Mitbewohnerin hat mir einen todsicheren Trick verraten, um meinen Begleiter wiederzubeleben: Ein Fernstudium neben dem 40-Stunden-Job und schwupps! sitzt er wieder auf der Schulter, um tagaus, tagein zu mäkeln. Karen Schulz