„Schießt doch, ihr Schweine!“

■ Jeden Abend versammeln sich Belgrader am Fluß Save, um die Brücken gegen die Nato-Angriffe zu schützen. Die Angst vor der Bedrohung eint alle

Es wird dunkel. Bald werden wieder die Sirenen aufheulen. Wie an jedem Tag. Die Menschen in Belgrad beeilen sich auf ihrem Weg nach Hause. Vor allem, um rechtzeitig die Brücken zu überqueren. Seit Tagen spricht man darüber, daß diese vier Brücken über die Save, die die Innenstadt mit den Wohnsiedlungen in Neu- Belgrad verbinden, das nächste Ziel der Nato-Luftangriffe sein werden.

Die Hälfte der Einwohner Belgrads wohnt „auf der anderen Seite des Flusses“. Die Brücken verbinden Familien, Freunde und Bekannte. Die zwei Brücken in Novi Sad sind schon zerstört worden. Das beweist, daß die Nato es ernst meint. Die Bürger der jugoslawischen Hauptstadt sind gewarnt.

Trotzdem versammeln sich einige tausend Menschen auf der Brücke „Brankov most“. Als lebendiger Schutzschild. Die Brücke ist beleuchtet. Aus starken Lautsprechern dröhnt ein Lied einer kroatischen Rockband: „Was hat die Liebe damit zu tun“. Die Menschen tragen Zielscheiben, die an ihrer Kleidung angeheftet sind. Manche halten sich an den Händen. Manche singen mit. Die Bedrohung und die Ungewißheit verbinden hier alle.

„Ich kann es auch überhaupt nicht glauben, daß ich hier stehe und auf die Bomben der Nato warte“, sagt der vierzigjährige Elektriker Nenad Arsenijević. Doch diese Geste sei nicht weniger sinnlos als die irrsinnigen Zerstörungen der Nato. Der Unterschied sei jedoch, daß er seine Stadt liebe, während die Nato-Idioten kaltschnäuzig und gefühllos mit ihrem mörderischen Computern spielten. Vielleicht würde sie das Bewußtsein, unschuldige Menschen umbringen zu müssen, davon abhalten, auf diese Brücke zu schießen. „Ich weiß, daß es dumm ist, hier zu stehen. Aber ich kann nicht anders.“

Am Anfang der Brücke drücken Autofahrer die Gaspedale durch. Die Angst vor der unmittelbaren Gefahr läßt das Herz wie verrückt schlagen. Doch wenn sie die Menschenmasse sehen, halten sie an und hupen. Manche parken mitten auf der Brücke und schließen sich dem ohnmächtigen Protest an.

Auf der Brücke dem Tod in die Augen sehen

Ein Jugendlicher schreit in die Luft: „Schießt doch, ihr Schweine! Bringt uns alle um!“ Sein Freund beruhigt ihn: „Kreisch nicht, das ist umsonst. Die hören dich ohnehin nicht.“ In den Stimmen ist Angst zu spüren. Dennoch bleiben die Jungen mit den anderen auf der Brücke.

Eine ältere Frau in einem alten Fiat ist so gerührt, daß sie anfängt zu weinen. Auch ein Bus hält an. Die Fahrgäste steigen aus, der Bus fährt weiter. „Es ist das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, daß europäische Länder ein europäisches Land zerstören. Ich kann das alles nicht verstehen“, sagt ein pensionierter Professor der Physik. Für Amerika sei das nichts Neues, einfach ein neues Vietnam oder Korea, eine Abwurfstelle für Kriegsmaterial. Er selbst habe keine Angst. Er sei schon viel zu alt und habe zwei Bombardements in Belgrad überlebt. Die jungen Menschen täten ihm aber leid. „Aber trotz allem verstehe ich ihren Drang, sich irgendwie diesem Wahnsinn zu widersetzen.“ Wenn nicht anders, dann eben einfach auf diese Weise: auf einer Brücke stehen und dem Tod in die Augen schauen.

Dann nähert sich Polizei der Brücke. „Alle Ehre eurem Patriotismus, aber packt jetzt endlich die Sachen und verschwindet von hier, bevor ihr getötet werdet!“ brüllt einer der Polizisten. Die meisten gehen. Doch etwa 100 Menschen sind stur und bleiben auf der Brücke stehen.

Dann kracht es. Um 23.35 Uhr zerreißen zwei starke Detonationnen die Stille. Die Menschen auf der Brücke zucken zusammen. Eine Feuerzunge im Stadtzentrum erleuchtet die Dunkelheit. Dann ist eine große Rauchwolke zu sehen. Die Nato hat wieder Belgrad bombardiert.

„Mörder! Mörder! Mörder!“ schreit eine Frau hysterisch. Dann fluchen alle erleichtert. Ein Liebespaar küßt und umarmt sich leidenschaftlich. In dieser Nacht werden die Brücken Belgrads noch einmal von Bomben verschont. Und die Menschen, die sich entschieden haben, mit ihrem Leben die Brücken zu beschützen. Egal, wie sinnlos, wie unverständlich er erscheinen mag, dieser ohnmächtige menschliche Protest gegen die mechanische Zerstörung. Man verspricht, sich morgen an der gleichen Stelle wieder zu treffen. Wenn die Sirenen aufheulen. Und wenn Belgrad dann wieder bombardiert wird. Andrej Ivanji, Belgrad