Ostdeutsche & Südseeinsulaner

Die Südseeinsulaner bekräftigen ihre Identität, indem sie ihre Tradition und Kultur neu erfinden. Diese ethnologische Erkenntnis ist keineswegs so exotisch, wie sie scheint. „Das Authentische“ gibt es gar nicht. Jede Generation setzt das Bild ihrer Vergangenheit neu zusammen. Zehn Jahre nach dem Mauerfall ist dieses Phänomen auch in den neuen Bundesländern des wiedervereinten Deutschland sehr gut zu beobachten: Man nennt es Ostalgie  ■ Von Holger Jebens

Früher war alles besser.“ Diese Klage ist besonders nach gesellschaftlichen Umbrüchen in aller Munde. Im „Dritten Reich“, so hieß es mitunter noch in den fünziger und sechziger Jahren und so heißt es in den entsprechenden Kreisen noch heute, hätten „immerhin Sicherheit und Ordnung geherrscht“, ganz zu schweigen davon, daß Hitler „wenigstens die Autobahn gebaut“ habe. Im Rückblick auf die DDR wird zum Beispiel von Kinderkrippen, festen Arbeitsplätzen, bezahlbaren Wohnungen und von gegenseitiger Hilfe und Solidarität gesprochen.

Bei allen Unterschieden zwischen nationalsozialistischem Regime und „Arbeiter-und-Bauern-Staat“: In beiden Fällen ist die eigene Tradition und Kultur gut, sie liegt jedoch in der Vergangenheit, und daher ist die Gegenwart schlecht. Ein ähnliches Lamento, wenngleich in anderer Form, bekommen auch die Ethnologen im Südpazifik zu hören. Und ihre Berichte können auf unsere eigene Gesellschaft ein neues Licht werfen.

Wenn die Bewohner des Südpazifik eine allgemeine Verschlechterung beschwören, dann gleich umfassend: Die Ernteerträge nehmen ab, die Menschen werden kleiner und altern schneller. Den Männern fallen heute Haare und Zähne bereits in einem Alter aus, in dem sie früher noch kräftige Krieger waren. Krankheiten, Hungersnöte, Erdbeben und Wirbelstürme breiten sich aus.

Als Ursache dafür gilt, daß die Gesetze der traditionellen Kultur nicht mehr befolgt werden. Die Kinder, heißt es, verweigern ihren Eltern den Gehorsam; kaum noch jemand will oder kann etwa an traditionellen Maskentänzen teilnehmen. Und – jetzt beginnt es vertraut zu klingen – auf Kosten von Zusammenhalt und Gemeinschaftlichkeit nehmen Individualismus, Neid und Eigennutz immer mehr zu.

Zur „guten alten Zeit“ gehört jedoch überraschenderweise nicht nur die eigene Kultur, sondern oft auch die Ära der Kolonialregierung. In verschiedenen Gebieten von Papua-Neuguinea etwa wird knapp 25 Jahre nach der staatlichen Unabhängigkeit behauptet, damals habe es noch kaum Verbrechen gegeben, es seien viele Häuser und Straßen gebaut worden (von einer Autobahn ist allerdings nicht die Rede), es habe anders als heute keine Korruption gegeben, und das Geld sei noch „schwer“ gewesen, so daß man viel dafür kaufen konnte. Heute dagegen habe das Geld „fliegen“ gelernt.

Vergangenheit und Tradition können in Papua-Neuguinea allerdings auch ganz anders bewertet werden. Hatten schon die ersten katholischen oder lutherischen Missionare auf die Zerstörung von traditionellen Kultgegenständen gedrängt, so gilt in den Dörfern die traditionelle Religion vielfach bis heute als ein negatives Gegenbild zum Christentum. Nur wer entschieden mit ihr bricht, ist ein richtiger Christ, und nur ein richtiger Christ kommt in den Himmel. Dies ist vor allem deshalb ungemein bedeutsam, weil – auch das klingt nicht unbekannt – der Tag des Jüngsten Gerichtes für das Jahr 2000 erwartet wird.

Vertreter des christlichen Fundamentalismus wenden das Konzept der negativ bewerteten Tradition auch gegen die Katholiken im Land: „Ihr habt Euch noch nicht verändert, ihr hängt im Grunde weiterhin der traditionellen Religion an, und ihr seid eigentlich noch gar keine Christen.“

Diese Argumentation bleibt nicht ohne Folgen, da die allein in Papua-Neuguinea in großer Zahl miteinander konkurrierenden fundamentalistischen Gruppen seit vielen Jahren immer mehr neue Mitglieder hinzugewinnen – meist übrigens auf Kosten der größeren Kirchen, die zumindest offiziell inzwischen eine weitaus differenziertere Sicht der Vergangenheit vertreten.

Ethnologen untersuchen seit Beginn der achtziger Jahre die Art und Weise, in der sich die Bewohner des Südpazifik über ihre traditionelle Kultur äußern. Dabei verwenden sie meist den Begriff kastom. Er stammt aus dem neo-melanesischen Tok Pisin, einer der größten Verkehrssprachen der Region, und ist vom englischen custom abgeleitet.

Aber nicht nur die Wertschätzung von kastom ist sehr unterschiedlich. Auch was kastom überhaupt ist, hängt völlig vom jeweiligen Ort, Zeitpunkt und Gesprächszusammenhang ab. Damit stehen, sich ständig verändernd, gleichzeitig viele verschiedene Vorstellungen von kastom nebeneinander. Doch ob zwei Bewohner desselben Dorfes miteinander sprechen, ob es um Unterschiede zwischen verschiedenen Inseln geht oder ob man generell „Schwarze“ und „Weiße“ vergleicht: stets wird eine traditionelle Kultur beschworen, um gegenüber denen, die nicht dazugehören, die jeweils eigene Gruppenidentität zu bekräftigen. So dient kastom zugleich dem Zusammenschluß und der Abgrenzung.

Viele westliche Forscher haben bemerkt, daß sich das, was sie für die authentische traditionelle Kultur halten, von dem unterscheidet, was die Erforschten selbst darüber sagen. Der australische Ethnologe Roger Keesing zum Beispiel stellte fest, daß einheimische Politiker, in Städten aufgewachsen und im Westen ausgebildet, von den Vorzügen des kastom schwärmen, den sie selbst nie kennengelernt haben.

Auf Neukaledonien, so Keesing, bemühe man sich unter Berufung auf kastom, eine kollektive Identität von Gruppen zu schaffen, die nicht nur in vorkolonialer Zeit miteinander Krieg geführt haben, sondern die auch tatsächlich kaum kulturelle und linguistische Gemeinsamkeiten haben. Die gemeinsame Tradition ist eine künstliche.

Auch die Bewohner von Malekula – einer Insel, die zu dem Südseestaat Vanuatu gehört – definieren ihre Vergangenheit neu, um Landstreitigkeiten zu entscheiden. Anfang der achtziger Jahre stützten sich sich dabei vor allem auf das Buch eines Engländers, der etwa fünfzig Jahre zuvor bei ihnen über traditionelle Trommeln geforscht hatte. Wie die amerikanische Ethnologin Joan Larcom berichtet, glaubte man auch, daß der Geist dieses Engländers im Dorf umgehe. Die spirituelle Präsenz des Briten ist allerdings eine neue Entwicklung, denn bei einem früheren Besuch in den siebziger Jahren war der Forscherin noch aufgefallen, daß weder die alten Trommeln noch das entsprechende Buch oder der Autor ein Thema waren.

Die Begegnung mit verschiedenen Versionen von traditioneller Kultur hat viele westliche Forscher dazu veranlaßt, auch zwischen „wahren“ und „falschen“ Versionen zu unterscheiden. Dabei sind die „wahren“ natürlich die eigenen und die „falschen“ die anderen. Der Wissenschaftler, so wird vorausgesetzt, weiß schließlich am besten, „wie es wirklich war“, und deshalb kann nur er beurteilen, was authentisch ist und was nicht.

Diesen Anspruch haben vor allem einheimische Eliten als koloniale Bevormundung aufgefaßt und scharf zurückgewiesen. Dabei sah sich Keesing sogar dem Vorwurf des Rassismus ausgesetzt. Auch die Formulierung „Erfindung von Tradition“ stieß auf Kritik. Sie lasse auf „Falschheit“ schließen, da „Erfindung“ „Neuschöpfung“ bedeute und da das Neue nicht mit dem Alten, also mit dem Traditionellen, identisch sein könne.

Inzwischen wird die Frage nach dem „Authentischem“ von Ethnologen kaum mehr gestellt. Statt dessen gelten die ethnologischen und die einheimischen Versionen gleichermaßen als Konstruktionen, die, in der Gegenwart entworfen, von aktuellen Interessen, Perspektiven und Umständen beeinflußt sind.

So gesehen versteht man auch Tradition generell nicht mehr als ein fest umrissenes Gefüge von Vorstellungen, Praktiken und Objekten, das, unverändert weitervererbt, die Identität einer Gruppe ausmacht. Tradition ist eher ein Modell der Vergangenheit, das in der Gegenwart immer wieder neu entworfen wird; die ethnologischen und die einheimischen Versionen sind gleichermaßen „Erfindungen“, und in diesem Sinne sind sie auch gleichberechtigt.

Die Beschreibung eines westlichen Besuchers zählt genauso viel – oder genauso wenig – wie die Erinnerung der Erforschten. Statt also zu fragen, „wie es wirklich war“, kommt es darauf an zu untersuchen, wie die verschiedenen Versionen entstehen, wie sie eingesetzt werden und welchen Zwecken sie dienen oder dienen sollen.

Andererseits: Wenn nur noch eine Vielzahl von Konstruktionen bleibt, von denen die eine so viel wert ist wie die andere, wie kann dann ein Ethnologe noch behaupten, daß das, was er sagt, „wahr“ ist? Und wenn er das nicht mehr muß, besteht dann nicht die Gefahr, daß er sich davor drückt, zum Beispiel zu begründen, warum er sich selbst für eine bestimmte Version entscheidet?

Unabhängig davon, wie man sich in der Zwickmühle zwischen absolutem Wahrheitsanspruch und völliger Relativierung bewegt: Indem die einheimischen Versionen von traditioneller Kultur der Bekräftigung einer eigenen Gruppenidentität dienen, sind sie jeweils auch mit Selbstbildern verbunden. Und diese Selbstbilder entstehen in Abgrenzung von Fremdbildern. Dabei führen Vorstellungen davon, wie zum Beispiel „die Weißen“ sind, auch zu Vorstellungen davon, wie es in ihrer Welt aussieht. So bilden sich verschiedene Konzepte der Moderne, die jeweils verschiedenen Konzepten von Tradition gegenübergestellt sind. Zwischen diesen Konzepten herrscht im Grunde dieselbe Beziehung wie zwischen Selbst- und Fremdbildern.

Auf der Südseeinsel Neubritannien zum Beispiel, die während der Zeit der deutschen Kolonialregierung noch „Neupommern“ hieß, wird behauptet, der eigene kastom verlange Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft und Freigebigkeit sowie einen von Respekt und Scham geprägten Umgang der Menschen miteinander. All dies sei dagegen den Weißen unbekannt. Sie müßten selbst innerhalb derselben Familie für alles, ja sogar für den kleinsten Gefallen, bezahlen, und bei ihnen würden, wie entsprechende Videokassetten „von Verheirateten“ – auch Blue Movies genannt – zeigten, auch zwischen Männern und Frauen keine Regeln beachtet.

Viele Ethnologen bezeichnen heute die Art und Weise, in der die Bewohner der Südsee mit Fremdeinflüssen umgehen, als flexibel und dynamisch. Flexibilität und Dynamik sind jedoch keine grundsätzlich neuen Eigenschaften, da oft auch schon vor den ersten Kontakten mit Weißen zum Beispiel Nutzpflanzen oder auch Kultveranstaltungen aus anderen Regionen bereitwillig aufgenommen und „ausprobiert“ werden konnten.

Während man jedoch aus ethnologischer Sicht sozusagen von einer vorkolonialen Variabilität ausgeht, sind die Südseeinsulaner selbst häufig ganz anderer Meinung: Sie stellen Kolonialisierung und Missionierung, also den Kontakt zwischen Tradition und Moderne, als den Einbruch von Veränderung in ein vormals statisches Gefüge dar. Diese Veränderung zielt über die Aufgabe von Tradition auf die Aufnahme von Moderne und damit auf die Angleichung an die Weißen.

Obgleich eigentlich ein historischer Prozeß, wird diese Veränderung räumlich dargestellt: Während im abgelegenen Inselinneren der kastom noch „stark“ sei und in den meisten Regionen eine „Mischung“ vorherrsche, hätten in den großen Städten die einheimischen Politiker und Geschäftsleute mit der inzwischen für sie typischen Gier und Habsucht den kastom bereits vergessen und ihre Verwandlung in Weiße schon fast abgeschlossen. Ihnen bliebe nur eine „schwarze Oberfläche“.

Westliche Einflüsse lösen eine Entwicklung aus, die nur in einer Richtung verläuft, und verschiedene Gruppen entsprechen verschiedenen Stufen dieser Entwicklung. Angesichts solcher Ideen könnte man fast auf die Idee kommen, die Inselbewohner als Evolutionisten zu bezeichnen. Der Evolutionismus gilt jedoch innerhalb der ethnologischen Wissenschaftsgeschichte mittlerweile als überwunden, nicht zuletzt, weil er mit seinen rassistischen Implikationen zur Rechtfertigung von kolonialer Unterwerfung herangezogen werden konnte. Daher würde diese Idee ebenfalls „die anderen“ mit einer vergangenen Entwicklungsstufe gleichsetzen, sie wäre also selbst evolutionistisch.

Die Vergangenheit von Gemeinsamkeit und Sicherheit; der Kontakt mit einer Welt von Egoismus und Orientierungslosigkeit; der Zwang, das Gute aufzugeben und sich dem Schlechten anzugleichen – es scheint geradezu, als würden Südseeinsulaner und Ostdeutsche im Grunde dasselbe Klagelied anstimmen.

Die ethnologische Erfahrung im Südpazifik zeigt jedoch, daß es nicht weiterführt, nur ein „Es war aber doch in Wahrheit ganz anders“ dagegen zu setzen. Auch Formen von „Ostalgie“, wie sie zehn Jahre nach dem Mauerfall verstärkt auftreten, sollten vielmehr daraufhin untersucht werden, welche Konzepte von Tradition und Moderne, welche Selbst- und Fremdbilder in ihnen zum Ausdruck kommen. Denn letztlich geht es bei den entsprechenden Äußerungen in Ostdeutschland und in der Südsee um dasselbe: die Verarbeitung von kultureller Fremderfahrung.

Holger Jebens, 37, ist promovierter Ethnologe und arbeitet am Frobenius-Institut in Frankfurt. Sein Forschungsschwerpunkt ist Papua-Neuguinea und die Verarbeitung von kultureller Fremderfahrung. Zu diesem Thema ist von ihm das Buch Wege zum Himmel, Bonn 1995, Holos Verlag, 345 Seiten, 55 Mark, erschienen