Todesursache: Inkompetenz

Zehn Jahre ist es her, da kam es im Hillsborough-Stadion im britischen Sheffield zu einer der größten Tragödien der Fußballgeschichte: 96 Fans wurden bei einer Panik in zwei hoffnungslos überfüllten Zuschauerblöcken zu Tode gequetscht. Obwohl grobe organisatorische Fehler schnell als Unglücksursache feststanden, wurden die Verantwortlichen nie zur Rechenschaft gezogen. Die baulichen Konsequenzen aus der vermeidbaren Katastrophe haben das Gesicht des Volkssports Nummer eins verändert, aber nicht unbeingt demokratisiert  ■ Von René Martens

Am 15. April 1989 war es warm in Liverpool, außergewöhnlich warm für einen Frühlingstag in England. Man konnte im Freien frühstücken, und wer von der Vorfreude erfaßt war auf das Pokalhalbfinalspiel zwischen Nottingham Forest und dem FC Liverpool, das am Nachmittag im Hillsborough-Stadion von Sheffield stattfinden sollte, zog sein Trikot an und ließ die Sonne drauf scheinen. Vicky Hicks allerdings, eine leidenschaftliche Anhängerin des Klubs von der Anfield Road, arbeitete noch gewissenhaft. Sie saß in ihrem Zimmer an der Schreibmaschine und dachte sich eine Reportage über das bevorstehende Spiel aus. Die Fünfzehnjährige wollte Journalistin werden. Erst ein paar Tage später kehrten Vicky und ihre Neunzehnjährige Schwester Sarah aus Sheffield zurück – im Sarg.

Das Sterben im Stadion war qualvoll gewesen: Die Mädchen wurden im Gedränge gequetscht, bis sie erstickten – eine Todesart, der ein langes prämortales Trauma vorausgeht. „Man hat uns zuerst gesagt, die Bewußtlosigkeit sei schnell eingetreten, und das war haargenau das, was ich hören wollte, denn das bedeutete, daß Vicky und Sarah nicht hatten leiden müssen“, sagt ihre Mutter Jenny. „Nachher, erst viel später, haben uns Spezialisten erklärt, daß es nicht so gewesen sei.“

Wenn sich am kommenden Donnerstag zum zehnten Mal der Tag jährt, an dem Vicky, Sarah und 94 weitere Fans des FC Liverpool ihr Leben in Hillsborough ließen, werden sich nicht nur die Hinterbliebenen an sie erinnern. Vielmehr sollen um 15.06 Uhr – dem Zeitpunkt, an dem der Schiedsrichter das Spiel absagte – alle Räder in Liverpool für eine Minute stillstehen. Sämtliche städtischen Bediensteten sind gehalten, ihre Arbeit niederzulegen, und auch Vertreter der Industrie haben ihre Unterstützung zugesagt.

1999 ist die – gemessen an der Zahl der Todesopfer – zweitgrößte Katastrophe in der Geschichte des Fußballs immer noch präsent. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst der Angehörigenvereinigung Hillsborough Family Support Group, die weiterhin dafür kämpft, daß die Justiz endlich die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht: die Polizisten, die an jenem Sonnabend den Einsatz im Stadion leiteten.

Bereits im August 1989 stellte Lord Justice Taylor, der die Katastrophe im Auftrag der britischen Regierung untersucht hatte, das Versagen der Ordnungshüter fest. Taylor hatte 3.776 Zeugenaussagen und 71 Stunden Videomaterial ausgewertet. Im Gerichtsverfahren zur Untersuchung der Todesursache – dem längsten und kostspieligsten in der britischen Justizgeschichte – wurden die Schlußfolgerungen des Taylor-Reports allerdings ignoriert. Die Geschworenen in Sheffield votierten für „Tod durch Unglücksfall“.

Nur zwei der elf Schöffen vertraten die Ansicht der Hinterbliebenen und Überlebenden: daß die 96 Fans in Hillsborough fahrlässiger Tötung zum Opfer gefallen sind. Schließlich gab es lediglich einen einzigen schmalen Eingang für 24.000 Liverpooler. „Für viele von ihnen war es völlig unmöglich, rechtzeitig ins Stadion zu kommen. Auch wenn sie sich ordentlich aufgereiht und zwei Stunden fürs Schlangestehen einkalkuliert hätten, wären sie nicht zum Anpfiff drin gewesen“, schreibt der Publizist Rogan Taylor.

Die Fans wurden durch einen Tunnel und ein Tor in zwei Blöcke getrieben, die schon hoffnungslos überfüllt waren. „Die Polizei hat uns wie Vieh behandelt“, sagt Eddie Spearitt, der Hillsborough überlebte, aber seinen Vierzehnjährigen Sohn Adam verlor. Obwohl die Polizeileitung über Videokameras das Geschehen bis ins kleinste Detail beobachten konnte, gab niemand den Befehl, den Tunnel zu schließen und die Fans in weniger belegte Blöcke zu leiten. Der verhängnisvolle Fehler: Als auf den überfüllten Stehplätzen Panik ausbrach, ließ die Polizei die Tore zum Spielfeld nicht öffnen. „Ich habe einen Polizisten angefleht, ich habe gesagt: ,Mein Sohn ist in Lebensgefahr.' Aber er hat sich nicht gerührt“, erinnert sich Eddie Spearitt. „Also packte ich Adam und versuchte, ihn über den Zaun zu heben. Abgesehen davon, daß er drei Meter hoch war, hatte er Spitzen oben dran. Das konnte ich nicht schaffen.“

So wurde das Stadion zur Todesfalle. Zumal „kaum die einfachsten medizinischen Geräte vorhanden waren“, wie Trevor Hicks klagt, Vater von Vicky und Sarah und Vorsitzender der Family Support Group. Eine „Armee hervorragend ausgebildeter Notfallmediziner“ war zwar am Ort. Aber die wurde von der Polizei vor dem Stadion festgehalten.

Trotz des Taylor-Reports hielt sich, vor allem dank der Boulevardzeitung The Sun, lange die Legende, die Liverpooler Fans hätten sich wie Barbaren verhalten, besoffen andere Anhänger totgetrampelt, sogar die Leichen geplündert. Colin Moneypenny, ein Überlebender der Katastrophe und heute Sekretär der Football Supporters Association (FSA), meint, die CIA wäre stolz gewesen, wenn sie „auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges ein derartiges Netz von Täuschung, Desinformation, Verleumdung und Propaganda“ hätte zusammenspinnen können. Und Trevor Hicks sagt: „Es dürfte schwer vorstellbar sein, aber man kann schließlich damit fertig werden, daß seine Kinder infolge von Inkompetenz gestorben sind. Was niemals vergeben werden kann ist die Art, wie die Hinterbliebenen hinterher behandelt worden sind.“ Das begann schon am späten Abend des Unglücks. In einer provisorischen Leichenhalle wurden die geschockten Eltern regelrecht verhört; die Polizisten fragten unter anderem nach den Trinkgewohnheiten ihrer Kinder.

Für die meisten Medien war Hillsborough dann eine Zeitlang überhaupt kein Thema mehr. Das änderte sich erst im Dezember 1996, als die britischen Fernsehzuschauer durch Jimmy McGoverns Dokudrama „Inquest“ aufgerüttelt wurden. Der Film, im wesentlichen basierend auf Interviews mit drei Ehepaaren, die in Hillsborough ihre Kinder verloren hatten, rekonstruiert auf eindringliche und beklemmende Weise die Katastrophe und ihre Folgen. Die erschütterndste Szene zeigt, wie sich Trevor Hicks und seine Frau, die sich nach dem Tod ihrer Töchter einander entfremdet haben, auf ziemlich würdelose Weise darum streiten, wer nach der Trennung welche Habseligkeiten der Kinder bekommt.

Der Autor Jimmy McGovern hatte vor „Inquest“ unter anderem „Cracker“ kreiert, die Kultserie um den beleibten, spielsüchtigen und manchmal ziemlich fiesen Polizeipsychologen Fitz, die in Deutschland unter dem Titel „Für alle Fälle Fitz“ lief. „Cracker“ war bereits eine mittelbare Folge von Hillsborough, denn McGovern sagt, die Katastrophe habe ihm seinen Idealismus geraubt und es ihm überhaupt erst ermöglicht, eine zynische Figur wie Fitz zu schaffen. Kein Wunder, daß eine Folge von „Für alle Fälle Fitz“ das Hillsborough-Trauma zum Thema hatte. Darin wird ein Mann, der während der Katastrophe im Stadion war, zum Psychopathen. Er nimmt sich vor, 96 Morde zu begehen – um jeden Toten einzeln zu rächen.

Daß Hillsborough vor „Cracker“ jahrelang ignoriert wurde, erklärt sich FSA- Sekretär Colin Moneypenny mit dem „neuen Image des Fußballs als harmloser, sorgenfreier Familienspaß“. Die „96 Toten einer vergangenen Ära“ hätten sich damit nicht gut vereinbaren lassen – trotz der Ironie, daß erst sie der Fußballindustrie jene Veränderungen bescherten, die ihre heutigen Profite möglich machten.

Nach der Katastrophe mußten die englischen Klubs ihre Stadien umbauen: Die Zäune wurden – endlich – abgerissen, gleichzeitig aber auch sukzessive die vermeintlich unsicheren Stehplätze abgebaut. Seit mittlerweile fünf Jahren dürfen Vereine der ersten und zweiten Liga nur noch Sitzplätze anbieten – mit dem Effekt, daß Mitglieder der unteren Schichten sich Fußball kaum noch leisten konnten, denn Sitzen ist bekanntlich teurer als Stehen. Die billigsten Tickets beim Londoner Club FC Chelsea kosten heute umgerechnet sechzig Mark, fünfmal soviel wie 1987. Und für die zwölf Mark, die man damals zahlte, käme man heute nicht einmal in ein Stadion der vierten Liga.

England wurde so zum Vorreiterland bei der Umrüstung der Fußballarenen zu Freizeit- und Busineßparks, die die Opfer von Sheffield wohl kaum gewollt hätten; Theater, Hotels und Restaurants locken heute zahlungskräftige Zuschauer, die das Spiel und sein Umfeld vorher wenig attraktiv, wenn nicht gar abstoßend fanden. Derart aufgerüstete Sportstätten stehen darüber hinaus im direkten Wettbewerb mit herkömmlichen Tagungsorten. „BayArena – Der Kick für ihr Event“, wirbt zum Beispiel Bayer Leverkusen auf seiner Homepage. Wenn sich die Meetingklientel dann am Wochenende in den Firmenlogen trifft, lebt die Ständegesellschaft wieder auf: Der Pöbel ist Wind, Regen und Kälte ausgesetzt, während die Betuchten und ihre Entourage hinter Fensterglas im Warmen hocken und Köstlichkeiten vom Büffet verspeisen.

Angesichts des Post-Hillsborough- Booms empfinden es viele englische Fußballfans als Schande, daß Vicky und Sarah Hicks, Adam Spearitt und den anderen 93 Opfern noch keine Gerechtigkeit widerfahren ist. Zumal andere europäische Länder ihre Stadionkatastrophen wenigstens ansatzweise aufgearbeitet haben. Nach der Katastrophe im korsischen Bastia etwa, bei der im Mai 1992 siebzehn Menschen getötet und fast zweitausend schwer verletzt wurden, als eine eigens für das Pokalhalbfinalspiel SEC Bastia gegen Olympique Marseille errichtete Tribüne einstürzte, wurden der Tribünenkonstrukteur, der Sicherheitschef des Stadions und der Vizepräsident des Heimvereins zu Gefängnisstrafen verurteilt. Und ein Jahr zuvor hatten – am Ende eines fünfjährigen Verfahrens über die Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion – Johan Mahieu und Albert Roosens immerhin eine sechsmonatige Strafe erhalten. Der Polizeikapitän Mahieu hatte den Einsatz geleitet, Roosens den Posten des Generalsekretärs im belgischen Fußballverband bekleidet.

Chief Superintendent David Duckenfield jedoch, der in Hillsborouhg das Kommando hatte, brauchte sich nie Sorgen zu machen. Der Polizist, den Jimmy McGovern in „Inquest“ als störrischen Herrenmenschen darstellt, ging schon mit 46 Jahren in Pension – aus „gesundheitlichen Gründen“, wie es hieß.

René Martens, 35, arbeitet als freier Autor in Hamburg. Seine Schwerpunkte: Fußball, Fernsehen, Pop