Kindermitbestimmung kostet nichts

■ Mit den „Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundlichere Stadt“ und dem Unicef-Jahr „Hauptstadt für Kinder“ soll in Berlin ein kinderfreundlicheres Klima geschaffen werden

Der Entwurf hört sich fast paradiesisch an: weniger motorisierter Individualverkehr, genügend Ausbildungsplätze, ausreichende Jugendfreizeiteinrichtungen, große Kinderzimmer, mehr Grünflächen. Auf 20 Seiten wird en détail (zum Beispiel mit dem Verbot von Kampfhunden, mehr Fahrradabstellplätzen und der Einführung autofreier Sonntage) ein wirklich kinder- und jugendfreundliches Berlin skizziert.

Bis jetzt ist davon nur wenig zu spüren, was allein die Zahlen beweisen: 1997 wurden 2.305 Kinder unter 15 Jahren bei Verkehrsunfällen verletzt, 3 Kinder starben. Auch die Kinderarmut wird immer größer: 1997 lebten 90.000 Kinder unter 18 Jahren von Sozialhilfe, Tendenz steigend. Und Ausbildungsplätze sind gerade in Berlin absolute Mangelware: Im März 1999 waren 5.683 Jugendliche unter 20 Jahren arbeitslos, allerdings 28.098 unter 25 Jahren.

Die „Leitlinien für eine kinder- und jugendfreundliche Stadt“, die in der Berliner Senatsjugendverwaltung erarbeitet werden und demnächst dem Parlament zur Abstimmung vorliegen, soll daran rütteln. „Dadurch wird sich nicht das ganze System ändern“, räumt der zuständige Mitarbeiter Günther Poggel ein. „Aber es sind immerhin kleine Schritte.“ Wille aller Parteien sei, daß man genügend Familien mit Kindern in der Stadt halte, weil sonst die Innenstadtbezirke verödeten und neue soziale Brennpunkte in den Kiezen drohten. Über 40.000 BerlinerInnen zogen 1998 ins Umland. Zudem ist Berlin 1999 Partnerstadt des UN-Kinderhilfswerkes Unicef und wirbt als „Hauptstadt der Kinder“ nicht nur für Spenden für Dritte-Welt-Projekte, sondern auch für ein kinderfreundlicheres Klima in der Stadt.

Können solche hehren Vorsätze überhaupt verwirklicht werden? Die Leitlinien sollen von allen Verwaltungen „berücksichtigt und umgesetzt“ werden, heißt es lapidar und ganz bürokratisch. Eine zusätzliche Finanzspritze gibt es nicht. Und deshalb ist auch kein „Kinderbeauftragter“ geplant, wie er schon erfolgreich in mehreren Kommunen in Nordrhein-Westfalen agiert. „Für einen einzigen Kinderbeauftragten ist Berlin zu groß“, sagt Poggel. Man brauchte mindestens 20 MitarbeiterInnen, und das sei finanziell nicht durchsetzbar.

Daß es keine zusätzlichen Finanzmittel gibt, ist der größte Kritikpunkt an den Leitlinien. „Es ist ein gutes Papier, die Haushaltslage und die Personalsituation werden es aber Papier sein lassen“, heißt es entmutigend im Rathaus Weißensee. Für die Grünen sind die Vorgaben einer SPD-geführten Verwaltung zwar weitestgehend „grünes Programm“, aber auch sie fordern finanzielle Mittel. „Wenn diese Ziele in Zukunft umgesetzt würden, wäre das eine Kehrtwende der CDU-SPD-Koalition“, sagt die familienpolitische Sprecherin Elfi Jantzen.

Poggel hofft, daß sich in der Verwaltung langsam, aber stetig ein „kinderfreundlicheres Denken und Handeln“ durchsetzt. „Durch „Synergieeffekte“ und die Umschichtung von Mitteln sollen die Leitlinien deshalb nicht als heiße Luft verpuffen, sagt Poggel. Und: „Eine größere Beteiligung von Kindern und Jugendlichen kostet nichts.“ Kinder sollen künftig in der Planung und Gestaltung von Quartieren eine ganz große Rolle spielen wie in den eigens eingerichteten Kinderparlamenten der Ostbezirke Hellersdorf, Lichtenberg und Köpenick. In Schöneberg sind Minderjährige beratende Mitglieder im Jugendhilfeausschuß.

„Wir wollen, daß Kinder mitentscheiden“, sagt Poggel optimistisch. „Zumindest sollen sie angehört werden.“ In der Planung gehe es vor allem auch um „Details“ – um die neue Ampel an der Schule, die Gestaltung einer Grünfläche. Poggel wünscht sich eine „bespielbare“ Stadt: „Eine Rutsche in Einkaufszentrum oder bewegliche Plastiken zum Spielen, das wäre doch schon was.“

Vielleicht werden aber auch die „Sauberen Zeitschriftenregale“ zuerst verwirklicht, denn auch das steht in den Leitlinien: „Schmuddelzeitschriften sollten nicht in der Reichweite von Kindern verkauft werden.“ Julia Naumann