Selbstverwaltete Packesel rasen durch die Stadt

In der vergangenen Woche startete „Inline“, der erste selbstverwaltete Kurierdienst in Berlin. Die Fahrer haben sich eine interne Ordnung und die Tarife selbst gegeben. Da sie Mitinhaber ihrer Firma sind, entgehen sie der in dieser Branche üblichen Scheinselbständigkeit  ■   Von Karen Wientgen

Wo früher Journalisten der SED-Zeitung Neues Deutschland die Treppenstufen hocheilten, sitzt ein Mann mit Fahrradhelm und schraubt an der Sohle seiner Spezialschuhe herum. Der 31jährige Christian Papke ist Fahrradkurier bei „Inline Kurier“ und gleichzeitig Miteigentümer des neuesten Berliner Botendienstes. Seine Angestellten hängen sieben Stockwerke über ihm am Telefon und tippen auf ihrer Computertastatur.

Es ist Dienstag vormittag und der erste Tag von Inline Kurier, dem ersten Kurierdienst in Berlin, dessen Vermittlungszentrale den Fahrrad- und Pkw-Fahrern gehört.

Jeder der knapp 100 Kuriere zahlt eine Mindesteinlage von 1.500 Mark und wird damit zum Miteigentümer. Vorbild ist der gleichnamige Kurierdienst in Hamburg, der vor eineinhalb Jahren gegründet wurde und dessen Fahrer es nach Angaben des Unternehmens auf überdurchschnittlichen Stundenlohn bringen. Von Preisen über Fahrtzeiten bis zur Aufnahme neuer Kuriere entscheiden die Kuriere über alles – in ihrem Interesse.

Denn im Kuriergeschäft herrschen häufig „frühkapitalistische Methoden“, so der Inline-Geschäftsführer, oft würden im Verhältnis zur Auftragslage zu viele Fahrer eingestellt, so daß der einzelne wenig zu tun habe und wenig Geld verdiene, nach Angaben eines Kuriers im Schnitt 10 Mark in der Stunde. Und, so weiß ein Inline-Mitarbeiter, es komme auch vor, daß ein Fahrer einen anderen unterbietet und ihm dessen Tour abnimmt.

Mittag. Der Fahrradkurier Papke steht am „Street Imbiß“ am Heinrichplatz in Kreuzberg und wartet auf einen geeigneten Auftrag über Funk. Im Moment sei noch nicht viel los, nicht nur, weil Inline neu ist, sondern auch, weil Wochenanfang sei. In den vergangenen Wochen ist er von Betrieb zu Betrieb gezogen und hat Kunden geworben. Der Berliner hat in Spandau „mit einem Kompagnon einen kleinen Betrieb gegründet, von dem man noch nicht leben kann. Deswegen will er nebenbei beim Inline Kurier arbeiten. „Als ich gehört habe, daß Inline aufgemacht wird, war ich begeistert“, berichtet Papke lebhaft. Die Aussicht, „mit Profis zusammenzuarbeiten“, gefällt ihm.

Wie Papke sind die anderen Inline-Kuriere ist schon seit Jahren im Kuriergeschäft. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, zu Inline zu gehen, war auch, so Papke, daß „man sich eh etwas wegen der Scheinselbständigkeit einfallen lassen muß“. Denn seit Anfang dieses Jahres existieren harte Gesetzesbestimmungen zur Scheinselbständigkeit. Sind Mitarbeiter eines Unternehmens nach den gesetzlichen Bestimmungen nur zum Schein selbständig und de facto Angestellte, müssen Unternehmen und Mitarbeiter Sozialversicherungen zahlen.

In der Vermittlungszentrale von Inline am Franz-Mehring-Platz 1 sitzen fünf Fahrradkuriere um den langen Tisch im Aufenthaltsraum und plündern das Pressebuffet. Sie seien „scharf darauf, rauszukommen und zu fahren“, erklärt ein grauhaariger Mann mittleren Alters mit Brille und schwarzer Kleidung – der sich als Geschäftsführer vorstellt.

Nachmittags. Über Funk hört Christian Papke von einem Auftrag, der ihm zusagt, und schwingt sich auf sein schwarzes Rennrad. Nur wenn er garantiert innerhalb von zehn Minuten beim Kunden ist, darf er den Auftrag annehmen, so die Regel. Braucht er sehr viel länger, vergrätzt er Kunden und Kollegen.

Ein Fall für die interne Gerichtsbarkeit, erklärt einer der Festangestellten, der einen „höher dotierten Job aufgab“ und dem der „neue Geist“ und „die Aufbruchstimmung“ beim selbstverwalteten Inline gefällt. Ähnlich wie in Hamburg wollen die Berliner Kuriere Verstöße gegen die Fahrerordnung ahnden. Stärkstes Sanktionsmittel: der Ausschluß.

Wie Papke später erzählt, gab es bei der Vergabe ein Mißverständnis. Ein Kollege hat es erledigt, Papke ist umsonst hingefahren. Eben Anlaufschwierigkeiten.

Abends 19 Uhr. Dichtgedrängt um den langen Tisch im Aufenthaltsraum feiern die Kuriere mit Bier und Rotkäppchen-Sekt den ersten Tag. Vorn sitzen die Autofahrer, die zwei Drittel der Inline-Boten ausmachen. Männer mittleren Alters, in Jeansjacken und Holzfällerhemden, viele mit Bärten, Goldketten und Bauch. Nur vereinzelt Frauen. Hinten im Raum sitzt das kleinere Grüppchen der Biker, jüngere Männer in bunten Fahrradklamotten, kurzgeschorenen oder gefärbten Haaren, Rastalocken, durchtrainierten Körpern.

„Im großen und ganzen können wir zufrieden sein“, leitet der Geschäftsführer ein. Aufmerksam sind die Fahrer ihm zugewandt, konzentrierte Stille. Ein paar Probleme seien noch zu besprechen, so der Geschäftsführer. „Geht die 3er-Antenne wieder?“ Eine der Funkantennen hatte nicht funktioniert. Ein magerer Mann, neben sich Handy und Zigaretten, wirft ein, daß „der Bike-Funk sehr gut ist, doch bei dem anderen hört es sich so an, als komme er aus dem Klo“. Mit Eierkartons und Kacheln könne man den Schall im Funkraum dämpfen, schlägt ein weiterer Fahrer vor. Andere Meinungen schließen sich an. Ein junger Mann mit schwarzer Jeansjakke und weißem T-Shirt meldet sich zu Wort. „Ich möchte die Nachtschicht ansprechen, da ich sie entwickelt habe“, sagt er und fragt, ob jeder das System verstanden habe.

Papke lehnt an der Wand. Daß sein Auftrag nicht geklappt hat, frustriert den leidenschaftlichen Radfahrer nicht. Die „Motivation macht es hier aus“, hatte er am Morgen erklärt. Er ist zuversichtlich. Viele der von ihm angesprochenen Unternehmen seien „von der Idee begeistert“ gewesen, allen voran die Alt-68er. Inline werde „einen Superservice“ anbieten, einfach, weil den Kurieren das Unternehmen selbst gehört und damit die Kunden überzeugen. „Die Leute müssen sich nur noch auf die neue Telefonnummer umstellen.“