■ Nebensachen aus Peking
: Mit Kind ist alles anders

Die „blühenden Wiesen“ kennt in Peking fast jeder. So heißt die Straße vom Russenviertel entlang dem Park des Sonnengottes bis zum alten Obstmarkt. Hier wohnen wir: Diyang Apartment, sechster Eingang, dritte Etage, Neubau einer Hongkonger Baufirma. Vor uns das Bezirksgericht, links eine Schule, rechts der Markt und ein Block Arbeiterwohnungen.

Zum Einkaufen auf dem Markt gehen wir mit Tochter, dann werden Äpfel, Eier und Tofu billiger. Sonst wird gehandelt, bei Ausländern beginnt man auf doppeltem oder dreifachem Niveau. Mit Kind ist alles anders, es bekommt alle Aufmerksamkeit, zumal es anders aussieht als der chinesische Nachwuchs. Meistens ist unsere Zweijährige falsch angezogen. Gemüsefrauen und Melonenmänner lassen sie nicht los, ziehen an ihren Hosen und Strümpfen, schimpfen auf Mutter und Vater, denn sie meinen, das Kind friert. Man sagt, die Pekinger ziehen im Frühjahr ihren Kindern drei lange Hosen übereinander an, weil sie zu arm zum Heizen sind. Das mit dem Heizen stimmt zwar in der Regel nicht mehr, aber die Kinder tragen immer noch drei Hosen und darüber nicht selten einen bunten Skianzug. Skianzüge werden in China eigentlich nicht gebraucht, denn es gibt keine Skipisten, aber man stellt sie für den Export und die Kleinen her, die darin so schön glänzen und schwitzen.

Kinder gibt es auf den „blühenden Wiesen“ jede Menge. Die Ein-Kind-Politik fällt zunächst nicht auf, weil es so viele junge Familien mit einem Kind gibt. Das süßeste Mädchen ist ein Jahr alt und trägt schon die feinsten Klamotten. Die Tochter des berühmten Filmstars Zhang Wei („Das rote Kornfeld“) wohnt bei uns im neunten Stock. Sie läuft ständig unserer Zweijährigen hinterher und wird dabei kreischend von ihrer Kinderfrau verfolgt. Die weiß, welchen Schatz sie hütet. Stolz zeigt sie der Kleinen die Zeitungsanzeigen von ihrem Vater, der gerade für neue Rasierklingen Reklame macht.

Viele Kinder aus unserem Haus gehen zur Schule nebenan. Morgens um sieben sieht man sie auf dem Bürgersteig frühstücken. Kleine Garküchen bedienen zu dieser Zeit die Menschen auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Der Frühstücksbäcker rollt Weizenteig zu einem langen Streifen, den er hochwirft, faltet und ins kochende Öl wirft. Nach wenigen Sekunden ist die Teigstange goldbraun gebraten und wird in süße Sojamilch getunkt.

So gestärkt muß sich der Nachwuchs um acht Uhr unter der chinesischen Nationalflagge zum Morgenappell auf dem Schulhof aufstellen. Alle Kinder tragen gelbe Mützen. Sie nehmen sie ab, wenn ein paarmal im Jahr die Nationalhymne erklingt. In manchen Pekinger Schulen gibt es einen einheitlichen Trainungsanzug für alle, aber niemals Uniformen.

Unsere Nachbarschule gilt als Eliteanstalt, weil ab der ersten Klasse einige Fächer in Englisch unterrichtet werden. Viele Kinder von Auslandschinesen kommen hierher. Doch ihre Pekinger Mitschüler sind von ihnen nicht mehr zu unterscheiden. Jungs und Mädchen sind adrett herausgeputzt, moderne Großstadtkinder von den Markenturnschuhen bis zur frischen Frisur. Die meisten holt am Nachmittag eine Mutter oder Großmutter ab, entweder auf dem Fahrradrücksitz oder in der Luxuslimousine.

Wir beneiden die Pekinger Familien. Sie haben alle Möglichkeiten, die Kleinen unterzubringen, während sie der Arbeit oder dem Studium nachgehen. Kindertagesstätten, die von morgens um sieben bis nachmittags um fünf geöffnet sind, bleiben für Chinesen billig und sind auch in gebildeten Gesellschaftskreisen angesehen. Außerdem gibt es für viele einheimische Familien die Alternative, eine Kinderfrau aus der Provinz einzustellen. Gegen einen Minilohn versorgt sie das Kind Tag und Nacht und freut sich obendrein, in der Hauptstadt zu sein. Besserverdiende wie wir können sich zwar eine Kinderfrau aus Peking leisten. Aber für unseren sechsjährigen Sohn, der kein Chinesisch spricht, müssen wir selbst sorgen. Und die deutsche Schule endet leider auch in Peking vor dem Mittagessen. Georg Blume