Der Wahn von innen

Ingeborg Schäfer entstammt einer SS-Familie. Sie hat deren Geschichte einfühlsam rekonstruiert. Zuviel des Guten?  ■ Von Stefan Reinecke

Noch ein Buch über die Nazizeit. Muß das sein? Offenbar ja. Der Rückgriff auf die Vergangenheit gehört zur bundesdeutschen Routine – so wie die Westbindung oder der Exportüberschuß. Das Bedürfnis, sich selbst zu verstehen, produziert einen endlosen Strom von historischer Literatur, von TV-Sendungen und pädagogischen Einheiten. Auch wenn diese Vergangenheitsverarbeitungsindustrie ihre Ambivalenzen und Abgründe hat – sie ist unverzichtbar, nicht zuletzt als Indikator für den Stand des demokratischen Bewußtseins. Dieses Buch, geschrieben von Ingeborg Schäfer gemeinsam mit der Autorin Susanne Klockmann, ist eine interessante, nicht unproblematische Facette in diesem Strom. Die Deutschen treten in unserer populären medialen Geschichtsschreibung meist als Verführte oder Mitläufer auf, manchmal als schreckenerregende kalte Technokraten des Terrors. Selten hingegen sind sie überzeugte Nazis; Leute, die den geistigen Kern der Naziideologie verkörpern; jene frühen gußeisern Gläubigen, ohne die der Aufstieg der Nazis kaum möglich gewesen wäre. Davon wollten die von Hitler enttäuschten Deutschen nach 1945 nichts wissen: Es wäre ein Blick in den Spiegel des eigenen Wahns gewesen.

„Mutter mochte Himmler nie“ schildert, wie so ein rassistisches, erlösungsfrommes Wahnsystem im Alltag aussah. Der Vater Johannes Schäfer war seit 1927 Mitglied in Partei und SS, die Mutter Eva trat 1929 mit achtzehn in die NSDAP ein. Die Heirat 1932, abgesegnet von Parteileuten, muß man sich als eine Art bewaffneter Nazidemonstration vorstellen.

Man bekam vier Kinder und NS-Orden dafür. Man feierte Weihnachten nach Nazibrauch: als Sonnenwendfest mit Lichtkind statt Christkind, mit Julleuchter – Himmlers Geschenk an an alle SS- Familien – und Gebäck in Runenform. Weihnachten 1944 schrieb der Vater, inzwischen Kompaniechef in Schlesien, nach Hause: „Um uns zu freuen, brauchen wir keine Geschichten aus dem Land der Juden. Bei uns gibt es viel schönere Kinder als dort, und einen so großen Führer wie Adolf Hitler schenkt Gott nur dem deutschen Volke. So blanke Augen wie ihr können in diesem Jahr nur deutsche Kinder haben und so froh nur mit deutschen Müttern zusammen unter dem Weihnachtsbaum sitzen, weil an allen Grenzen deutsche Väter Wache halten.“ Es folgte ein Gruß an die Mutti. Das Niedliche und das Irre in einem Atemzug.

Vom Vater erfährt man in sachlichem Ton die Stationen seiner Karriere: 1939 mitverantwortlich für den Angriff auf die Danziger Post, dann Polizeipräsident in Lodz, wo er die Einrichtung des jüdischen Ghettos befahl, später wegen interner Naziquerelen degradiert. Eher verwundert als zornig schreibt Ingeborg Schäfer, daß ihr Vater auch später nie Kritikwürdiges an seinem Tun sah. Ihre Verurteilungen klingen eher pflichtgemäß als bewegt. So bleibt sie in einer Art regungslosen Halbdistanz. Sie nimmt ihren Vater, der bis zum Karriereknick zur SS-Elite zählte, nicht direkt in Schutz; aber zu genau will sie auch nicht wissen, was er tat. „Vater war ohne Zweifel ein Antisemit, und es blieb nicht bei der Ideologie“ schreibt sie. Es gibt eine Reihe solcher Sätze, die eine konkrete Wahrheit mit einer allgemeinen Formulierung umschiffen. Ganz leise klingt in diesen Sätzen ein Schrecken nach, ein Nicht-wissen-Wollen und zitternder Zweifel.

Von der Mutter erfährt man, daß sie stolz war, daß ein Foto der blondbezopften Ingeborg in einer NS-Rassenzeitschrift abgebildet war – doch im Alltag war sie zu allen, auch zu Kriegsgefangenen, herzensgut. Dunkel erwähnt wird sogar das Gerücht, daß ihr das KZ drohte.

Ingeborg Schäfer zeichnet ihre Eltern in mildem Licht und scheut schroffe, präzise Urteile. Diese Haltung kann man, im Namen der Moral, kritisieren – und hat damit auf eine etwas billige Art recht. Denn allzu verwunderlich ist es ja nicht, daß die Kindheitserinnerungen, die Liebe zu den Eltern, die Loyalität zu ihnen den Blick trüben. Merkwürdig ist vielmehr, daß sie diese Spannung stillgelegt zu haben scheint. Deshalb wirkt die Tochter selbst seltsam farb- und konfliktlos.

Draußen war die Welt, in der Furchtbares geschah, innen die Familie, die im Wesen heil blieb. So liest es sich hier, das ist stillschweigend die Version der Tochter. Ist das realistisch? Funktionieren solche hermetischen Trennungen? In einem Brief an die Mutter überlegt der Vater, wie es wäre, wenn ein eigenes Kind sterben würde, und fragt, ob „das nicht unsere Anstrengungen vermehren würde, die anderen zu behüten oder gar noch ein Kind zu bekommen?“ Denn gerade das Schlimme, Ungerechte macht uns „stärker, schöner, größer“. Und: „Das Leid, das den Einzelnen trifft, ist oft Segen für Hunderte.“ Vom toten eigenen Kind zum Menschheitsfortschritt. So buchstabiert sich eine Ideologie, die mit Opfern rechnet: nicht nur draußen im Krieg und im Ghetto, auch zu Hause unterm Lichtkind. Wie liest eine Tochter solche Zeilen? Man erfährt es nicht.

Ingeborg Schäfer, Susanne Klockmann: „Mutter mochte Himmler nie. Die Geschichte einer SS-Familie“. Rowohlt 1998, 36DM