Politischer Endspurt durch die Wüste

Der Spitzenkandidat für Algeriens Präsidentschaftswahlen, Abdelaziz Bouteflika, auf Wahlkampftour im Süden des Landes. Er verspricht die Rückkehr zu goldenen Zeiten. Aber wie er das finanzieren will, sagt er nicht  ■ Aus Adrar Reiner Wandler

Allahu Akbar!“ – „Gott ist groß!“ – schallt es vom Minarett der Moschee. Der Redner auf dem Platz hält kurz inne, dann tut er es dem Muezzin nach: „Allahu Akbar“ ruft auch er lang und gedehnt ins Mikrofon. Die eigens aus Algier eingeflogene Lautsprecheranlage trägt die Stimme über den Platz der Märtyrer im Saharastädtchen Adrar. Mehrere tausend Zuhörer jubeln Abdelaziz Bouteflika begeistert zu. Der Präsidentschaftskandidat der algerischen Regierungspartei RND reißt die Arme hoch. Er verharrt eine Weile in dieser Haltung, als würde er sich jeden Augenblick zum Gebet verbeugen. Dann setzt er wieder an. Mit gedämpfter Stimme zitiert er in monotonem Gesang eine Koransure, ein Lob an die Gastfreundschaft. Er hat das Publikum endgültig auf seiner Seite.

Abdelaziz Bouteflika, einst Algeriens Außenminister unter Präsident Houari Boumediene, hat Routine. Nach über 40 Wahlkampfveranstaltungen in nur zwei Wochen kennt der 61jährige alle Tricks, um die Zuhörer zu begeistern. Die Versammlung auf dem Platz in Adrar, einem alten arabischen Handelsflecken 1.400 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier, wurde wenige Minuten vor dem Abendgebet ausgesetzt. Die spontan wirkende Unterbrechung der Rede kommt hier in der Wüste an. Nichts schätzen die Menschen im tiefen Süden des Landes so sehr wie den Respekt vor Religion und Brauchtum.

Die zweitägige Tour über 5.000 Flugkilometer, die Bouteflika durch die wichtigsten Orte der algerischen Sahara führt, ist für den Kandidaten von ganz besonderer Bedeutung. Hier stand seine politische Wiege. Hier verehren ihn die Menschen als einen der Führer der antikolonialen Befreiungsarmee, die über die Grenze aus Mali kamen, um die Franzosen auch vom Süden her unter Druck zu setzen. Mit Kamelmilch und Datteln wird er am Flughafen empfangen. Die Notablen der örtlichen Wüstenstämme warten im Saal für Ehrengäste.

Unbeweglich, der stolze Blick eingerahmt vom weißen Turban, sitzen sie im Halbkreis. Bouteflika nimmt mitten unter ihnen Platz. Er streift sich die reichbestickte Dschelaba über, die ihm als Zeichen der Anerkennung ausgehändigt wird. Hier beginnt der Wahlkampf in Adrar, und hier endet er eigentlich auch schon. Die Oberhäupter der Clans beschließen, wer gewählt wird. Üblicherweise halten sie sich an das, was Armee und Staatsapparat in Algier vorgeben. Dieses Mal ist es Bouteflika. Er wird im Gegenzug für die Unterstützung die Macht der Scheichs respektieren, wie alle seine Vorgänger auch.

Danach beginnt das Spektakel. Links und rechts der Straße vom Flughafen in die Stadt haben sich die Männer des Ortes aufgestellt. Ob Araber oder Tuaregs, ob in weißen oder blauen Dschelabas und Turbanen, sie präsentieren ihre alten silberbeschlagenen Vorderlader. Eine Geste der Unterwerfung wie einst gegenüber den türkischen Herrschern, als wäre Bouteflika bereits Rais – Präsident. Auf der Einfahrt zum Platz inmitten der rotbraun gestrichenen, kubischen Gebäude mit weißen Zinnen erwarten den Kandidaten die Rhythmen der Trommeln und der in den algerischen Nationalfarben gestrichenen Karkabous – überdimensionale Kastagnetten aus Metall. Die Frauen stimmen ihre „Jujus“ an, schrille, vibrierende Freudengesänge.

„Algerien gehört allen Algeriern“, ruft Bouteflika vom Rednerpult herab. Dann geht er zu dem Thema über, das mehr und mehr den Wahlkampf bestimmt: die nationale Aussöhnung nach sieben Jahren Bürgerkrieg mit über 120.000 Toten. „Beide Seiten sind Muslime. Laßt uns zur Vernunft kommen, bevor es zu spät ist!“ ruft er. „Allahu Akbar“, stimmen die Zuhörer als Antwort an. „Ich will, daß Algerien wieder ein weißes Herz hat, so weiß wie diese Blume!“ erhebt Bouteflika die Stimme und zeigt auf das Gesteck vor sich. Er möchte mit allen Algeriern reden, auch mit „diesen Leuten, die in den Bergen sind“. Gemeint sind die militanten Islamisten. Allerdings unter einer Bedingung: „Immer im Rahmen der Verfassung und der Gesetze der Republik.“

„Für die Wiedergeburt des Vaterlandes“ gelte es zu streiten. Es folgt stürmischer Applaus. Mal schauen Bouteflikas stahlblaue Augen fest, fast schon starr über die Menge hinweg. Dann wieder bekommt er einen gütigen, väterlichen Gesichtsausdruck. Der Kandidat ahmt bei seinen Auftritten den Mann nach, unter dem er einst als Minister gedient hat.

Bouteflika redet wie Boumediene, stellt wie dieser rhetorische Fragen, nimmt mit mildem Blick den Applaus entgegen. Wenn er aus dem Flugzeug steigt, wirft er sich auch bei größter Hitze einen schwarzen Mantel über, ohne in die Ärmel zu schlüpfen, als wäre es der Lodenumhang des toten Vaters der algerischen Nation. Um die Show perfekt zu machen, hängt hier in Adrar neben dem riesige Bouteflika-Poster gegenüber der Rednerbühne auch das seines omnipräsenten Idols. Nur eines fällt Bouteflika schwer. Ihm fehlen entscheidende Zentimeter, um auch körperlich die Größe seines Vorbilds zum Ausdruck zu bringen. Ein Podest hinter dem Rednerpult hilft dem ab. So überhöht, richtet er sich ans Volk: „Ich bin nicht der Kandidat der Mächtigen, ich bin nicht der Kandidat der Armee, wie die Presse behauptet. Ich bin der Kandidat des Volkes.“ Jubel. Keiner der Anwesenden scheint sich zu Fragen, warum der Altpolitiker nach fast 20 Jahren wie aus dem Nichts wieder auftauchte. Zweimal schon stand Bouteflika kurz vor dem Präsidentenamt. Zweimal wurde nichts daraus. Nach dem Tod Boumedienes 1979 machte ihm die Armee einen Strich durch die Rechnung. Sie unterstützte Chadli Bendjedid. Als dieser nach dem Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) 1992 von den Generälen zum Rücktritt gezwungen wurde, kam Bouteflikas zweite Chance. 1994 gingen die Streitkräfte auf ihn zu. Doch dieses Mal wollte er nicht. Staatsoberhaupt wurde der Ex-General Liamine Zéroual. Bouteflika zog sich erneut zurück. Nachdem Zéroual letzten Herbst vorgezogene Neuwahlen ankündigte, war Boutef, wie ihn seine Anhänger nennen, plötzlich wieder da – als Kandidat des Staatsapparats.

„Kandidat des Konsens“ nennt sich Bouteflika seither. Dem Wahlvolk versucht er das einzige zu verkaufen, was er zu bieten hat: „Algeriens Größe.“

„Fünf französische Franc war der Dinar damals wert“, erinnert er die Zuhörer, von denen viele in kostenlosen Bussen aus der Provinz angereist sind, an die Zeiten der mit Petrodollars finanzierten sozialistischen Experimente unter Präsident Boumediene. Der Zwischenruf einer alten Frau fragt nach der Korruption. Er wisse, daß die „Algerier die Schnauze voll haben vom Staat der Banditen“, antwortet der Kandidat unter Jubel. „Regieren heißt dem Volke dienen“, lautet eine seiner Parolen, die einem Handbuch der Unabhängigkeitsbewegung der 50er Jahre entliehen scheint. Wieder Jubel.

Doch vor allem in den großen Städten im Norden des Landes haben die Menschen Bouteflikas Vergangenheit als Politiker des Einparteiensystems nicht vergessen. In der Berberregion Kabylei empfingen ihn Jugendliche mit Steinen. „Boutesrika“ – Vater der Diebe – wurde in der Berberhauptstadt Tizi Ouzou an Wände gesprüht.

Doch dafür interessiert sich hier im traditionalistischen Süden kaum jemand. „Alles, was ihr hier seht, hat Boumediene gemacht. Die Schule, das Krankenhaus, den Platz, die Straßen“, erklärt einer der Zuhörer, Mohammad Belhabrit. Der 35jährige arbeitet in einer staatlichen Baufirma. Von Bouteflika erhofft er sich einen Ausweg aus der Krise. „Ein würdiger Nachfolger für den großen Boumediene“, fügt der Vater von drei Kindern, der seine beiden Töchter und seine Frau „selbstverständlich“ zu Hause gelassen hat, hinzu.

Obwohl der „Sozialismus vorbei ist und gut begraben liegt“, verspricht Bouteflika mehr staatliche Initiative. Weiter im Norden in Bechar will er einen Staudamm reparieren lassen, hier in Adrar soll eine Universität entstehen, „damit auch die Mädchen studieren können, die nicht die Familie verlassen können, um in andere Städte zu gehen“, und in Tamanrasset neunhundert Kilometer weiter südlich soll es Wasser und eine Landstraße nach Mali geben, damit die Tuareg leichter dem Handel nachgehen können.

Bouteflika weiß, daß hier heute viele Menschen voller Neid auf die wirtschaftliche Entwicklung der Nachbarländer Marokko und Tunesien blicken. Das war nicht immer so. Solange das Erdölgeschäft florierte, galt Algerien in Nordafrika als Land des Wirtschaftswunders und der sozialen Absicherung. Mit dem Preisverfall Mitte der achtziger Jahre kam die Krise. Fehlende Entwicklung der Landwirtschaft und das Ausbleiben des Tourismus nach dem Aufflammen der Gewalt traf den Süden besonders stark. Jetzt redet Bouteflika wieder, wie einst Boumediene, vom „Kalifornien in der Sahara“. Wie er seine Versprechungen angesichts der leeren Staatskassen finanzieren will, darüber schweigt er sich aus.

Und wie um Bouteflika und seine Zuhörer auf den Boden der Realität zurückzuholen, fällt plötzlich der Strom aus. „Vielleicht war das jemand, dem mein Diskurs nicht gefällt“, scherzt der Kandidat, als das Mikrofon wieder funktioniert. Die Menge jubelt gegen die vermeintlichen Vaterlandsverräter an. Auch das war schon einmal da.