Belgrader beten im Bombenhagel

Das diesjährige orthodoxe Osterfest steht in Serbien wieder im Zeichen des Krieges. Und die Kirche bemüht den Mythos von der historischen Schlacht auf dem Amselfeld  ■ Aus Belgrad Andrej Ivanji

Trotz Fliegeralarms versammeln sich Samstag nacht Tausende festlich angezogene Menschen vor der orthodoxen Kathedrale in Belgrad. In wenigen Minuten bricht der orthodoxe Ostersonntag an. Tausende Kerzen brennen. Kinder halten bunte Eier in den Händen. Die Menschen flüstern nur miteinander. Wird die Nato heute zuschlagen? Wie würde man später nach Hause kommen? Wer fährt in die gleiche Richtung? Wegen Benzinmangels ist kaum jemand mit dem Auto gekommen, um den Worten des Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche, Pavle, zu lauschen, und öffentliche Verkehrsmittel fahren nur bis 20 Uhr. Trotz der andächtigen Stimmung stehen den Menschen die Kriegssorgen ins Gesicht geschrieben.

Als die Glocken um Mitternacht die Stille durchbrechen, zuckt ein junges Mädchen zusammen. Im ersten Augenblick denkt sie, das Bombardement habe wieder begonnen. Eine ältere Dame umarmt sie beschützend. „Am Ostersonntag 1941 haben die Nazis Belgrad bombardiert und zerstört. Am Ostersonntag 1944 haben die Alliierten die Nazis in Belgrad massiv bombardiert, wieder die Stadt zerstört und unschuldige Menschen umgebracht. Hoffentlich wird an diesem Ostersonntag die Nato nicht Belgrad zerstören“, sagt die 70jährige Moroslav Nikolić. Irgendwie hätten die Serben Pech mit dem Ostersonntag.

„Schaut doch nur in den Himmel. Es ist wieder bewölkt, die Nato jammert seit Tagen, daß das Wetter zu schlecht für ihre Raketen sei. Gott ist mit uns!“, sagt ein jüngerer Priester, der das Gespräch zufällig mitangehört hat.

Doch als der Ostersonntag erwacht, scheint die Sonne. Ein schlechtes Vorzeichen? Die serbische Regierung hat während der orthodoxen Osterfeiertage einen einseitigen Waffenstillstand im Kosovo verfügt. Die serbisch-orthodoxe Kirche ruft die Gläubigen auf, aus der Auferstehung des Herrn Trost zu schöpfen. Nato und Güte des Allmächtigen. Bomben und christliche Liebe. Zerstörung und Frömmigkeit. Die blutige Schlacht am Amselfeld und die gesegnete Aufopferung. Die Gefühle der Menschen vor der orthodoxen Kathedrale in Belgrad und die christliche Botschaft des Friedens stehen im Widerspruch zur Rhetorik im staatlichen Fernsehen, dem Mythos und der Realität des Krieges. Wieder einmal.

„Der Angriff der Nato auf Jugoslawien muß moralisch verurteilt werden. Die gewaltsame Logik der Nato ist eine Tragödie, nicht nur für das serbische Volk, sondern für alle Menschen“, erklärte der greise Patriarch Pavle am Ostersonntag. Doch Kosovo sei das „alte Serbien“, die „Wiege der serbischen Geistigkeit“. Die Serben müßten der „Erfahrung des Kreuzes und der Auferstehung, dem Erbe des Kosovo treu bleiben“. Auf diesem Wege gäbe es keine Niederlagen.

Die Botschaft der serbisch-orthodoxen Kirche am Ostersonntag ist eindeutig: Habt Vertrauen in den auferstandenen Herrn, der den Tod besiegt hat, und ihr werdet alle Todesgefahren überleben. Der Erzpriester Hadzi Ljubodrag Petrović sagt: „Die Kirche betet für das christliebende Heer, das die größte Last auch dieses Verteidigungskrieges tragen muß.“

Wie 1389, bei der Schlacht am Amselfeld. Dort hatte im Juni das christliche Serbien die Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) gegen das otomanische Reich ausgetragen und das Abendland verteidigt. Sowohl der serbische Kaiser Lazar als auch der türkische Sultan Murat kamen dabei ums Leben. Doch militärisch übermächtig, marschierten die ungläubigen Türken ein und besetzten das mittelalterliche, christliche Serbien für die nächsten 500 Jahre.

Diese größte Niederlage der serbischen Geschichte verwandelte die Legende in den größten Sieg der orthodoxen Serben. Gegen die damals aufkommende, größte militärische Macht der Welt hatte das kleine Serbien auf dem irdischen Kampfplatz keine Chance. Doch im Kampf für das himmlische Reich folgten die serbischen Kreuzritter – mit dem Segen der orthodoxen Kirche – Kaiser Lazar in den Tod im Kosovo. Auch alle – damals noch christlichen – Albaner. Doch das wird heute in Serbien verschwiegen. Das mittelalterliche Serbien brach zusammen, aber der serbische Geist überlebte in den serbischen orthodoxen Klöstern im Kosovo. Auf diesem Mythos baute Jugoslawiens Präsident Slobodan Milošević das heutige Serbien auf.

Der Kreis hat sich nach 610 Jahren geschlossen. Ein Mythos ist Wirklichkeit geworden. Die sechs Jahrhunderte alte Volkssage lebt wieder – im Fernsehen, auf der Straße, auf dem Friedhof. Die Helden sind neu, die Toten sind neu, der Feind ist neu – die „größte mechanische Macht der Welt“. Doch der Kampfplatz und die Botschaft sind gleich: Gesegnet sei der Tod für das heilige Kreuz und das heilige Land, verdammt seien alle, die das irdische dem himmlischen Leben vorziehen. Der Geist ist stärker als jede militärische Macht.