■ Schlagloch
: Der Angriff der Aktualität auf die übrige Vernunft Von Mathias Greffrath

„Gut hundert Jahre nach der Dreyfusaffäre ... ist die Idee des allgemeinen, politisch engagierten Intellektuellen, der unbeirrbar und unentwegt den Fortschritt der Menschheit einklagt, an der Wirklichkeit zerschellt.“ (Reinhard Mohr im „Spiegel“)

„Tja, Pech, nicht...“ Unvermutet ein kleiner Peitschenschlag, aber er traf. Wir saßen vorm Fernseher, und eine demoskopische Scheinwahrheit – vom Schlage: die Bevölkerung sei für Bodentruppen – wurde angesagt. „Die Demoskopie ist der Tod der Demokratie“, setzte ich zu ein paar analytischen Anmerkungen über den Idiotenkreislauf von populistischen Schlagzeilen, digitalisierter Demoskopie und politischen „Entscheidungen“ an; und wie ich mich kenne, hätte ich noch sagen können: „Seit Adornos ,Meinung, Wahn, Gesellschaft' ist da alles gesagt.“ Habe ich aber diesmal nicht getan. Trotzdem kamen – von der Jüngsten aus der Fernsehrunde, glasklar und hell – die drei Wörter: „Tja, Pech, nicht...“

Knapp und unbarmherzig legten sie den Finger auf die Schwäche der 68er Intellektualität der Nachkriegskinder, die, nostalgisch auf die zerbrochenen Traditionen fixiert, ganz tief innen immer noch auf Heimatsuche sind, statt endlich auf dem Boden des schlechten Neuen laufen zu lernen. 68 – das war die letzte „kräftige Erneuerung des alteuropäischen Geistes“, hatte Hermann Lübbe damals gespottet.

Etwa zu der Zeit, als ein Lüneburger Beamter namens Luhmann, der mit Fernsehen und Allensbach als Gegebenheiten rechnete, statt sie zu bekämpfen, über das politische System schrieb: „Wer hier noch etwas verwirklichen will, der gilt als Irrläufer und wird als solcher behandelt“, da machten wir uns immer noch ans „Rekonstruieren“. Wenn Habermas die Regression der Öffentlichkeit in die neofeudale Verlautbarungswelt der PR-Maschinen kritisierte, dann glaubten wir, man könne diese Entwicklung, grundgesetzlich gedeckt, rückgängig machen: „Enteignet Springer.“ Wenn wir jahrelang die strategischen Sünden der II., III., IV. Internationale analysierten, dann doch nur, damit der Zug wieder auf den reparierten Originalgleisen rollen könnte: Sozialismus mit menschlichem Gesicht, Antikolonialismus, Humanisierung der Arbeit...

Die Suche nach Vergewisserung in der Vergangenheit war historische Maskerade und Berührungsangst, aber dabei nicht gänzlich voluntaristisch: In den Jahren nach 68 wankte der Stalinismus – und sollte sich nicht mehr erholen. Im kapitalistischen Empire zeigten Entkolonisierung und Club of Rome die Grenzen des Liberalismus. In den 80ern deutete sich, mit den „Gattungsproblemen“, eine neue Kulturbewegung an; noch das kleinteilge Basteln von Solaranlagen stand in einem Zusammenhang mit großen, universellen Gedanken. Dann Gorbatschow, das Ende des „Sozialismus“, und im Westen unterspülte ein wiedergeborener Raubkapitalismus die Ordnungen der Staaten und die Sicherheiten der Lebenswelt. „Fünfzig Jahre Unordnung“ sah der Weltmarkttheoretiker Wallerstein kommen und forderte: „Nun müssen wir alle wieder Utopisten werden.“ In der Tat: Befreit von den Fesseln des Kalten Krieges, nicht mehr zum parteilichen „Verrat der Intellektuellen“ genötigt, könnte der freischwebende Intellektuelle – der „clerc“, den Julien Benda in eine Traditionslinie von den mittelalterlichen Klöstern über die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts bis zu den unparteilichen Republikanern der Dreyfus-Generation gestellt hatte – noch einmal wichtig werden: als säkularisierter Prediger, der über allen Parteien steht, mit unerbittlichem Wirklichkeitssinn analysiert und das vernünftig Notwendige einfordert, auch wenn es weit vorn liegt.

Das Gegenteil scheint der Fall zu sein, und wenn auch nur aus dem Grund, daß im Medienkapitalismus die selbständigen Existenzen auch im Denksektor abgenommen haben und die ehedem freie Intelligenz sich im Erst-, Zweit- oder Drittberuf als Berater und Redenschreiber verdingen muß, um Zweithäuser, Drittfrauen und Viertelurlaube zu finanzieren.

Laut jedenfalls wird nicht mehr groß gedacht, und das gerade, wo es Not täte. Jeder aufgeklärte Stammtisch weiß seit 1990, daß eine Lösung für den Balkan nur in der politischen Integration dieser Chaosstaaten in die EU liegen kann. Jeder weiß, daß Europa als Lebensform nur eine Chance hat, wenn jetzt schnell seine konstitutionelle Vereinigung kommt; jeder weiß, daß nur eine globale Ordnung der Finanzmärkte die explodierenden Ungleichheiten, nur eine Entwicklung der UNO zur Weltpolizei die wilden Kriege eindämmen kann. Jeder weiß, daß nicht Wachstum, sondern eine Kultur des Konsumverzichts die ökologische Katastrophe verhindert. Und jeder, der nachdenkt, weiß, daß nur eine rabiate Verkürzung des Normalarbeitstages eine Desintegration der europäischen Gesellschaften verhindert.

Sicher, all dieses sind historische Großprojekte. Aber sie stehen nun einmal an und sind nicht ohne Opfer und die Aufgabe zäher Gewohnheiten zu haben. Doch wer auch nur laut über den Status quo hinausdenkt, gilt den fröhlichen Weitermachern als verdächtig, bestensfalls veraltet. Wieder der Alp der Nostalgie, diesmal andersrum.

Schweigen breitet sich aus, nach den Jahrzehnten des Club of Rome und der Grünen; Bedürfnisse aber, für die es keine öffentliche Sprache mehr gibt, große Projekte, die keine Sänger mehr haben, die verschwinden aus der Wahrnehmung, und der Horizont, unter dem Politik auch nur das Mögliche versucht, schrumpft immer weiter.

Nein, der „Dreyfus-Intellektuelle“, dessen Frontalunfall der Kollege Mohr im Spiegel so frisch und hocherfreut konstatierte, der wäre durchaus aktuell und gefragt, um, im Blick auf übermorgen, das Vernünftige, aber schwer zu Machende zu fordern und das Publikum dafür vorzubereiten. Statt dessen aber lesen wir, immer wenn die Situation verfahren ist, kurzfristige, geraffte Ratlosigkeit, Bekenntnisse, digitalisierte Stellungnahmen: pro oder contra Land- oder Lufttruppen, Ökosteuern, Tamagotchis oder Denkmäler. Am besten aber gleich (wie von Richard Herzinger in der Zeit) die luhmanneske Metakritik, die sagt, daß der Intellektuelle in der Mediengesellschaft eben zu mehr nicht in der Lage ist.

Wirlich nicht? Was war es eigentlich damals, das mich aus dem Alltag des entpolitisierten Bewußtseins riß, lange vor 68: das Foto des greisen Bertrand Russell mit seinen weißen Locken, der sich, unter einem atompazifistischen Schild, aus der Downing Street tragen ließ – Zeuge einer lange Dauer ausstrahlenden Vernunft, die Dinge forderte, von denen die Gesellschaft noch nicht träumte. So wie die Ausrufer des Achtstundentages, die PropagandistInnen der Frauenemanzipation und des Völkerbundes vor hundert Jahren. Einzelne inmitten einer Bewegung von einzelnen – Nonkonformisten hießen die damals –, die für sich standen: brennend interessiert nicht an alten Gewißheiten, sondern auf der Suche nach neuen Heimaten.