Der Kreml kämpft an zwei Fronten

Das neue Bemühen des Westens, Rußland in die Lösung der Kosovo-Krise einzubeziehen, überbrückt kurzfristig innenpolitische Differenzen  ■   Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Wieder hat die kommunistische Mehrheit der Duma Rußlands Präsident Boris Jelzin demonstrativ die Gefolgschaft verweigert. Eigentlich hätte morgen nach monatelanger Vorbereitung das Parlament die Auftaktprozedur eines langwierigen Amtsenthebungsverfahrens gegen den Präsidenten einleiten wollen. Der Gesetzgeber erhebt schwere Vorwürfe gegen den Kremlchef. So wird ihm zur Last gelegt, die Auflösung der UdSSR im Jahr 1991 betrieben, den Tschetschenien-Krieg entfacht, die gewaltsame Zerschlagung des Obersten Sowjets 1993 veranlaßt und am eigenen Volk einen vermeintlichen „wirtschaftlichen Genozid“ begangen zu haben.

Angeblich wegen Verfahrensunklarheiten verschob die kommunistische Fraktion den Wahlgang nun um einen Monat. Am Vorabend hatte Boris Jelzin die Parlamentarier noch dazu aufgefordert, das Impeachment wie geplant durchzuziehen oder es endgültig von der Tagesordnung zu streichen.

Die Kühnheit des Präsidenten hat einen einfachen Grund: Viel kann dabei nicht schiefgehen. Denn selbst wenn zwei Drittel der Abgeordneten dem Antrag zustimmen würden, was nicht ausgeschlossen ist, müßten danach auch das Oberhaus des Parlaments, der Föderationsrat und der Oberste Gerichtshof ihr Placet geben. Und damit ist kaum zu rechnen. Um ihr Gesicht zu wahren, haben sich die Kommunisten anscheinend entschlossen, das anhängige Verfahren als zentrales Dauerthema im Vorwahlkampf zu den Dumawahlen, die voraussichtlich am 19. Dezember stattfinden, am Köcheln zu halten. Überdies vermutet die chauvinistisch-kommunistische Mehrheit im Parlament, Jelzin werde, solange das Amtsenthebungsverfahren in der Schwebe hänge, die Regierung unter Jewgeni Primakow nicht antasten.

Und auch die Entwicklung rund um das Kosovo stimmt die Kommunisten nachdenklich: Ist es wahltaktisch weise, dem Präsidenten in den Rücken zu fallen, nachdem der Westen erkannt zu haben scheint, daß er im Kosovo mit Moskaus Unterstützung mehr erreichen kann als ohne? Ihr Patriotismus würde sein wahres, heuchlerisches Gesicht zeigen. Sollte im Kosovo tatsächlich eine politische Lösung erzielt werden, müßten sich die Kommunisten statt mit symbolischer Politik, die sie noch aus dem Effeff beherrschen, mit wirklichen Problemen befassen, die die Bürger bedrücken. Dazu fehlen ihnen der Wille und auch die Kompetenz.

In den zurückliegenden Wochen war der Kreml innen- und außenpolitisch an zwei Fronten eines Kalten Krieges verwickelt. Am Wochenende verpaßte Jelzin seinem Premier Primakow eine schallende Ohrfeige: „Im Moment nützt uns Primakow, später werden wir weiter sehen“, hatte der Kremlchef in einem Gespräch mit Präsidenten der Teilrepubliken geäußert. Dem Kremlchef behagt die Popularität des Regierungschefs nicht, dem immerhin in Umfragen 65 Prozent der Bevölkerung ihr Vertrauen aussprachen, während Jelzin mit drei Prozent vorlieb nehmen mußte.

Die geschäftige Tatenlosigkeit des Premiers ist sicherlich auch ein Stein des Anstoßes, bei weitem aber nicht der ausschlaggebende. Primakow ließ den Affront nicht unbeantwortet. „Heute bin ich nützlich, und morgen werden wir sehen“, meinte er in einer zwölfminütigen, eigens aufgezeichneten Fernsehreplik. Sichtlich verschnupft versicherte Primakow dem eifersüchtigen Kremlherrn, er habe weder Ambitionen, an den Präsidentschaftswahlen teilzunehmen, noch hinge er an dem Premiersposten.

Die Realität sieht freilich etwas anders aus. Der erfahrene ehemalige Geheimdienstchef wahrt nach außen hin weiter die Loyalität zum Chef. Wenn er auch nicht aktiv an dem Intrigenspiel teilnimmt, so unterläßt er es aber auffallend, der Ränkeschmiede entschieden zu begegnen. Hartnäckig halten sich daher in der russischen Hauptstadt Gerüchte, die Tage Primakows im Kreml seien gezählt.

Allerdings steckt Jelzin in der Klemme. Die Personalressourcen sind erschöpft, und der jüngere reformorientierte Politikernachwuchs ist verschlissen, verbraucht oder diskreditiert. Und dennoch: Boris Jelzin scheint wieder ein wenig zu Kräften gekommen zu sein. Gewöhnlich wartet er dann mit Überraschungen auf, die häufiger von Emotion denn von Vernunft zeugen. So häufen sich Anzeichen dafür, daß die Präsidialkanzlei plant, demnächst an der innenpolitischen Front einen Gegenangriff zu lancieren. Koordinator der Konterattacke hinter den Kulissen soll kein anderer sein als der ehemalige Vorzeigereformer Anatoli Tschubais.