Es lebe die Enthemmung!

■ Das Bürgerschreckkommando Lars von Trier im Abaton

Sie sagen immer die Wahrheit. Sie können nicht anders. Das macht sie so unschuldig, da sind sie wie Engel, die Idioten. Wenn sie lachen, wird es laut, wenn sie weinen auch. Die Reinheit des Herzen kennt schließlich keine Diskretion. Lars von Triers Idioten zappeln und lallen, kreischen und brabbeln. Das Essen fällt ihnen aus euphorisch verzogenen Mundwinkeln. Beim Feixen fallen sie vom Stuhl, beim Weinen auch. Und alles ist Lüge. Ihr Kopf-an-die-Wandschlagen, ihr Auf-dem-Boden-wälzen. Denn das Ganze ist nur ein Selbsterfahrungstrip eines Bürgerschreckkommandos.

Triers Idioten fehlt es an nichts, sie sind gesund, und das macht sie krank. Der Erreger heißt Langeweile oder einfach Vater. Je nach Mitspieler. Und der kuschelige Teil der Therapie reicht von Betriebsausflügen zu Wärmeisolierungsherstellern bis Gruppensex. Idioten ist nicht nur provokant, sondern auch demaskierend. Er berührt und amüsiert. Denn kaltblütiger Zynismus und handwarme Empfindsamkeit halten sich die Waage. Und wenn ein Heer von Spastikern, Autisten und Schizophrenen versucht ein schiefes Weihnachtsgesteck zu verkaufen und die Kundschaft vor lauter Scham schnell und tief in die Tasche greift, dann kommt das der eigentlichen Idiotie hinter den Türen der Zivilisation sehr nahe. Mit politischer Korrektneß hat das erfreulich wenig zu tun, aber mit Spaß.

„Wenn Idioten keine Freude am Filmemachen vermittelt, habe ich versagt“, sagte Lars von Trier in Cannes. Und wenn sich der Mitbegründer der Gruppe Dogma 95 um etwas nicht schert, sind das eherne Glaubenssätze. Die zehn Gebote der Dogma-Filmer (Du sollst keinen Genrefilm drehen etc.) bleiben eine Frage persönlicher Prioritäten. So ist Idioten nicht ausschließlich im „Hier und Jetzt“ gedreht. Es ist das Paradoxe, das von Trier am Regelwerk interessiert. Die menschliche Sehnsucht nach dem Absoluten, das schon im Wunsch sein unauflösliches Dilemma gleich mitliefert – das ist Religion. Und von Trier hat ihr mit Breaking the Waves seine Kirche gebaut. Denn das größte Talent der heiligen Bess bleibt hier ihr Glaube, der sie das eigene Echo im Gespräch mit ihrem Allmächtigen als göttliche Antwort hören läßt. Bergmans gottsucherische Qual, die archaische Frömmigkeit Dreyers und Hitchcocks katholische Züchtigungsängste – das ist der heilige Rat, den Lars von Trier bei seinen jüngeren Filmen befragt.

Geister gibt es bei von Trier da, wo der böse Rationalist und der kalte Mediziner in klinischen Vermessungsorgien die Schöpfung entweihen. Zerstückelt und gemordet wird, sobald der Welt wie in Element Of Crime die Rätsel ausgehen und arme Seelen im vergifteten Leben, wie Spülreste im Abfluß, treiben. Wenn aber naturverbundene Idioten die Enthemmung, den durch keine gesellschaftliche Verklemmung gebremsten Körper feiern, wird das eine Party. Gruppen-Stalins und verkaterte Seelen mitinbegriffen.

Birgit Glombitza

Lars-Von-Trier-Tag, Di, 20. April: Breaking The Waves (16.30), Preview von Idioten mit einer Einführung von Achim Forst (20 Uhr), Element Of Crime (23 Uhr), Abaton