Hermeneutisches Nichts

Daheim im Spiegelkabinett des Absurden: die Filme der Coen Bros. im Metropolis  ■ Von Jan Distelmeyer

Eine weiße Leinwand, damit fängt alles an. Jeder Film und auch die Geschichte des Kinos selbst. Weiß und doch nicht leer ist auch die Leinwand in Fargo, obwohl das Licht bereits erloschen ist und der Film gerade begonnen hat. Raum also – in jeder Beziehung – für Interpretationen. In diesem Sinne könnte man Fargo (1996), den sechsten Film der Coens, als einen Neubeginn betrachten, der die Leinwand apodiktisch von früheren Bildern befreit und dabei zugleich das erste Weiß eines jeden Kinofilms in sich trägt. Über eine Minute lang blicken wir diesem Weiß entgegen, bis es sich als neblige Schneelandschaft entpuppt, aus der sich schließlich ein Auto löst.

Zumindest was den Erfolg betrifft, wurde Fargo tatsächlich zu einer Zäsur im Werk der Coens. Nachdem sie 1991 für Barton Fink die Goldene Palme von Cannes gewinnen konnten, hatten sich die beiden Stars des amerikanischen Independent-Kinos mit Joel Silver, einem der erfolgreichsten Produzenten der (Action-)Filmgeschichte, zusammengetan, um 1994 ihr langjähriges Projekt Hudsucker Proxy realisieren zu können. Mit einem Budget von 25 Millionen Dollar sollte Hudsucker so viel kosten wie die bisherigen Filme Barton Fink, Millers Crossing (1990), Raising Arizona (1987) und Blood Simple (1984) zusammen. Umso erstaunlicher war, daß der radikale Humor und die kompromißlose ästhetische Geschlossenheit der bisherigen Filme in dieser ersten „Mainstream-Produktion“ der Coens ihren Höhepunkt erreichten. Die Folge waren ein verstörtes Publikum, zumeist verständnislose Kritiken und ein Desaster an den Kinokassen.

Diesem Höhe- und zugleich Nullpunkt in der Karriere der Filmemacherbrüder folgte Fargo, der größte Erfolg bei Kritik und Publikum, für den die Hauptdarstellerin Frances MacDormand sogar mit dem Oscar ausgezeichnet wurde. Also: ein Neubeginn? Einerseits nein, denn natürlich finden sich auch in der tragisch verhunzten Entführung von Fargo bisherige Qualitäten der Coen-Filme. Der Humor – etwa wenn Marge Gunderson dem Killer Gear (Peter Storemare), der gerade seinen Kumpel (Steve Buscemi) in den ohrenbetäubenden Schredder drückt, per Handzeichen ihren Polizeistatus klarmacht und ein an sich perfektes ästhetisches Konzept, in dem der ewige Schnee nicht nur Töne und Farben zu verschlucken droht, bilden auch hier das Grundgerüst. Von dem selbst- und mediumreflexiven Hang zum Absurden ganz zu schweigen. Andererseits aber beging Fargo trotzdem eine Art eigenen Weg, der auch angesichts des nachfolgenden Films The Big Lebowski (1998) einzigartig blieb.

Bis dahin hatte ein wiederkehrender Charakterzug der Coen-Filme darin bestanden, das Publikum mit verheißungsvollen Metaphern auf die Sinnsuche zu schicken, um sie dann mit voller Wucht gegen eine Wand, oder besser: ins Leere laufen zu lassen. Der Hut, das genrehistorisch aufgeladene Gangster-Accessoire, treibt in Millers Crossing im Wind dahin, das mysteriöse, kopfgroße Paket von Barton Fink bleibt enttäuschenderweise ungeöffnet, und das nicht nur philosophisch bedeutungsschwere Kreissymbol in Hudsucker entpuppt sich am Ende schlicht als Hula-Hopp-Reifen: You know, for kids! All das funktionierte hervorragend im Coen-Kosmos, dessen Humor die absurdesten Verbindungen und Überleitungen ins hermeneutische Nichts schafft. Wie in Hudsucker führte der Versuch, „dahinter“ – hinter die Bilder der Coen-Filme zu kommen – immer nur zu einer Variation dieser Bilder und Referenzen. „Dahinter“ ist davor, meint: mittendrin.

Fargo dagegen hatte innerhalb dieses filmhistorisch faszinierenden Spiegelkabinetts so etwas wie eine Utopie bebildert. Einen unpretentiösen Traum, der sich aus dieser steten Verleugnung des authentischen Bildes entwickelt zu haben schien. Das in seiner drögen Verschlafenheit glückliche und (soweit man das sagen kann) „funktionierende“ Ehepaar Gunderson durchzog Fargo wie eine liebevolle Behauptung: ein Paar immerhin, das abends stillschweigend Arm in Arm in den Schlafzimmer-Fernseher starrt und sich am Tage über Briefmarken und Würmer unterhält. Es wäre einfach und noch dazu naheliegend gewesen, den halbglatzigen, entenmalenden Angler mit dem vielsagenden Namen Norm (John Carrol Lynch) und seine Frau, die schwangere Polizeichefin Marge, allein zum pittoresken Teil einer nervtötend freundlichen Gemeinde zu machen. Wie dies in Fargo nicht geschieht, macht den Film so besonders. Sowohl für das bisherige Gesamtwerk der Coens als auch für das amerikanische Kino der 90er Jahre.

Blood Simple: So, 18., 21.15 Uhr; Mo, 19. April, 21.15 Uhr; Fr, 23., 21.15 Uhr; Sa, 24. April, 19 Uhr. Arizona Junior: Fr, 23., 19 Uhr; Mi, 28., 21.15 Uhr; Do, 29., 19 Uhr; Fr, 30. April, 21.15 Uhr. Barton Fink: Sa, 24., 21.15 Uhr; So, 25., 19 Uhr; Do, 29., 21.15 Uhr; Fr., 30. April, 19 Uhr, Metropolis. Die Reihe wird mit Fargo und The Big Lebowski fortgesetzt