Der letzte Wohnsitz

Am Montag zieht der erste Mieter in ein einzigartiges Wohnprojekt in Kreuzberg: Hier werden schwersterkrankte Aidspatienten körperlich und psychosozial betreut  ■   Von Sabine am Orde

Überall im Haus arbeiten noch die Handwerker, nur in den Zimmern im fünften Stock ist es ruhig. Auf dem Fußboden und den wenigen Möbeln, die bereits auf der Etage verteilt sind, liegt Staub. Andreas Gellert steht in einem kleinen Appartment auf der linken Seite des Flurs und schaut sich um. „Das ist wirklich schön hier“, sagt er und zieht einen Zollstock aus der Jackentasche. Gellert freut sich auf Montag. Denn dann wird er als erster Mieter in den Neubau in der Reichenberger Straße in Kreuzberg einziehen. Dort wird das bislang einzigartige Wohnprojekt für Aidskranke in Berlin eröffnet.

Gellert, der bleich und abgemagert ist, ist seit zehn Jahren HIV positiv, vor zwei Jahren brach die Krankheit aus. Als Folge seiner Junkie-Zeit hat der 37jährige, der seit drei Jahren mit Polamidon substituiert wird, eine chronische Hepatitis und eine Leberzirrhose. In diesem Jahr war er bereits vier Mal im Krankenhaus, die Abstände dazwischen werden immer kürzer.

Als er vor einigen Monaten nachts in seinem Zimmer zusammenbrach und gerade noch den Rettungswagen holen konnte, war für ihn klar: Er will in das neue Projekt in der Reichenberger Straße einziehen. „Hier ist dann immer jemand da“, sagt er und setzt sich erschöpft auf sein neues Bett.

Das „Wohnhaus für Menschen mit Aids“, wie das Projekt offiziell heißt, war ursprünglich als Hospiz geplant. 21 Kranke in der letzten Lebensphase wie Gellert, der nicht mehr zu Hause leben kann, aber auch keinen Krankenhausaufenthalt braucht, sollten hier bis zu ihrem Tod ein neues Zuhause finden. Doch das Wort Hospiz mag zik-Geschäftsführer Christian Thomes nicht. Zik, „zu Hause im Kiez“, ist der Träger des Projekts, eine gemeinnützige GmbH, die seit zehn Jahren Wohnungen an Aidskranke vermittelt und auch Betreuung und Beratung organisiert. „Das Haus ist auf Leben ausgerichtet“, begründet Thomes seine Ablehnung, „und die Bewohner können wieder ausziehen, wenn es ihnen besser geht“.

Das ist eine Veränderung des ursprünglichen Konzepts, die sich in den letzten zwei Jahren vollzogen hat. „Dank neuer Medikamente und der Kombinationstherapie hat sich die Lebenserwartung der Aidskranken verlängert, die Krankheitsverläufe schwanken sehr“, sagt Thomes. Gleichzeitig seien neue, psychische Krankheitsbilder wie Neurosen oder Psychosen entstanden. „Diese bedürfen einer intensiven psychosozialen Betreuung und die wird es hier geben.“ Das Projekt, so Thomes weiter, sei nun für beide Zielgruppen gedacht.

Andreas Gellert glaubt nicht, daß er noch einmal woanders wohnen wird. „Auch wenn ich nicht ständig an den Tod denken will“, sagt er und dreht sich eine Zigarette aus seinem schwarzen Tabak, „aber ich weiß, daß ich nicht mehr lange leben werde.“

Gellert wohnt bereits jetzt in einem zik-Projekt, doch dort ist die Betreuung bei weitem nicht so intensiv, wie es in der Reichenberger Straße geplant ist. Sechs SozialarbeiterInnen werden hier bis zehn Uhr abends einsatzbereit sein, nachts gibt es eine Rufbereitschaft. Das Pflegeteam von HIV e.V. kommt nach Bedarf ins Haus, andere Angebote, darunter auch Sterbebegleitung, soll von Ehrenamtlichen gemacht werden.

Finanziert wird das alles aus unterschiedlichen Töpfen: Bei Andreas Gellert, der von der Sozialhilfe lebt, zahlt das Sozialamt die Miete in Höhe von 880 Mark, die psychosoziale Betreuung wird nach Absprache mit dem Senat für alle BewohnerInnen mit 99 Mark berechnet. Für die Krankenpflege zahlt die Krankenkasse, für die Grund- und Hauspflege die Pflegeversicherung, beide werden im Einzelfall festgelegt. Andreas Gellert hat Pflegestufe zwei, „das sind etwa zwei Stunden Hauspflege für Putzen, Einkaufen und Kochen und eine Stunde Krankenpflege pro Tag“.

Zwei von Gellerts jetzigen MitbewohnerInnen ziehen ebenfalls um, sie werden seine NachbarInnen im fünften Stock. Vier kleine Appartments mit Kochzeile und Bad gibt es auf jedem Flur, den Gellert immer wieder als „Station“ bezeichnet. „Dabei sieht es hier gar nicht aus wie im Krankenhaus, auch wenn das Bett durchaus kliniktauglich ist“, sagt er dann und drückt zur Demonstration auf die Fernbedienung, die das Kopfende des Betts hochfahren läßt.

Mit seinen drei NachbarInnen wird sich Gellert zusätzlich ein Wohnzimmer, eine große Küche und einen Balkon teilen. Darüber ist er froh: „Dann kann man auch zusammen essen und ist nicht immer allein“, sagt er. „Ich kann ja nicht den ganzen Tag fernsehgukken.“

Noch sind die Räume fast leer, doch mit Parkettboden, viel Licht und Wandanstrichen in warmen Farben wirken sie schon jetzt sehr einladend. Neben den Appartements und den Gemeinschaftsräumen für die BewohnerInnen gibt es im Haus Büro- und Pflegeräume, vier Zimmer für Notfallaufnahmen und Gäste.

Im Erdgeschoß soll ein Café entstehen, von der Dachterrasse, die wie alle Räume mit Hilfe des Fahrstuhls auch mit Rolli und Bett befahrbar ist, hat man einen grandiosen Blick über die Dächer Kreuzbergs – in der Ferne sieht man den Fernsehturm auf dem Alexanderplatz und die Treptowers.

Gellerts zukünftige NachbarInnen sind Substituierte wie er – und das hat Prinzip. „Durch die verschiedenen Etagen können wir unterschiedliche Gruppen aufnehmen“, erklärt zik-Geschäftsführer Thomes. Er geht davon aus, daß vier Fünftel der BewohnerInnen Ex-Junkies beiderlei Geschlechts sein werden, ein Fünftel schwule Männer.

Fünf Jahre hat zik an dem Haus gearbeitet, das schließlich als sozialer Wohnungsbau im ersten Förderweg entstanden ist. Es ist das sechste und größte zik-Projekt. Acht Millionen Mark hat es insgesamt gekostet, über die Hälfte hat die öffentliche Hand finanziert, den Rest schossen im wesentlichen eine private Stiftung und ein Sponsor hinzu.

Doch zik war nicht die einzige Organisation, die an einem Hospiz für Aidskranke arbeitete. Auch die Berliner Aids-Hilfe (BAH) und die Initiative Lighthouse, die sich inzwischen aufgelöst hat, planten ähnliche Projekte. Die BAH hat ihren Plan längst aufgegeben. „Weil die Sterberaten zurückgehen, reicht ein Aidshospiz in Berlin“, sagt Armin Traute von der BAH, „und zik war in der Planung einfach weiter als wir“.

Im bundesweiten Vergleich aber hinkt Berlin hinterher. In Städten wie Frankfurt und Hamburg gibt es bereits Hospize für Aidskranke.

Andreas Gellert ist das ganz egal. Er freut sich auf sein neues Zimmer, auf die Dachterrasse und auch darauf, „daß endlich mal wieder etwas in meinem Leben passiert“. Dann steigt er in den Bus und fährt er zurück in sein altes Zimmer, wo schon die Umzugskisten auf ihn warten.