Ein mysteriöser, quälender Geist

Jonathan Demme gelingt es, die Verschränkung von konkreten und metaphorischen Bezügen in Toni Morrisons Roman „Beloved“ bei dessen Verfilmung wenigstens als Ahnung mitlaufen zu lassen  ■   Von Axel Henrici

„Mama erzählt nie was von früher“, sagt Denver zu Menschenkind. „Erzähl mir“, sagt Menschenkind zu Denvers Mutter Sethe. Und Sethe erzählt von ihrer Mutter, die als Sklavin auf einer Plantage arbeitete. „Wenn du nicht mehr weißt, wer deine Mutter ist“, sagte ihr die Mutter, „an diesem Brandmal hier an meiner Rippe wirst du mich immer wiedererkennen.“ Sethe wollte auch so ein Mal, da gab ihr die Mutter eine Ohrfeige. Menschenkind hat ein Mal am Hals. Da, wo ihre Mutter ihr vor achtzehn Jahren aus Liebe die Kehle durchschnitt. Jetzt ist Menschenkind bei Sethe aufgetaucht. Und damit auch die Erinnerungen, Schmerzen und Alpträume einer Vergangenheit, die nicht vergehen will.

Das Vergessen erinnern

„Der Kampf ums Vergessen, der für das Überleben so wichtig ist, erweist sich letztlich als fruchtlos“, beschrieb Toni Morrison in einem Interview die paradoxe Dialektik von Erinnern und Vergessen. Und ihr Roman „Beloved“ demonstriert, daß es nötig ist, das Vergessen zu erinnern, und vor allem, daß es möglich ist, das Vergessen des Erinnerns zu erinnern. Von der Wunde der Sklaverei, dem „Unaussprechlichen“, zu sprechen und mit der Erinnerung zu (über-)leben.

„Beloved“, 1988 mit dem Pulitzer-Preis bedacht, beginnt sechs Jahre vor Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs und hört acht Jahre nach dessen Ende auf, umspannt also einen zeitlichen Rahmen von achtzehn Jahren (1855 bis 1873). Erzählt wird die Geschichte der ehemaligen Sklavin Sethe, die zusammen mit ihren vier Kindern aus Kentucky ins benachbarte Ohio flieht, wo die Sklaverei bereits abgeschafft ist. Achtzehn Jahre später ist ihr nur noch die Tochter Denver geblieben – und der Geist einer toten Tochter, der immer wieder das Haus am Stadtrand von Cincinnati heimsucht. Doch dann tauchen hintereinander zwei Personen auf, die das geregelte Leben stören. Paul D., ehemaliger Sklave und Freund alter Zeiten – und Menschenkind, eine geheimnisvolle junge Frau, die eines Tages entkräftet an einem Baum vor Sethes Haus lehnt. Beide bringen sie in eine überwunden geglaubte Zeit zurück.

Zehn Jahre hat Amerikas populärste Afroamerikanerin Oprah Winfrey darauf hingearbeitet, Toni Morrisons Roman zu verfilmen. Erklärter Ehrgeiz der einflußreichen Talkshowmasterin, Schauspielerin und neuerdings auch TV-Buchkritikerin war es, für die Afroamerikaner das zu schaffen, was Steven Spielberg mit „Schindlers Liste“, wie sie sagte, für die Juden gelungen sei: Den Opfern ein Denkmal zu setzen, den heute Lebenden aber gleichzeitig ein Zeichen der Hoffnung zu geben und eine breite Öffentlichkeit dazu zu bewegen, sich mit einer Vergangenheit auseinanderzusetzen, die bis heute nicht vergehen will. Daß es schließlich ein weißer Regisseur war, der die Verfilmung wagte, mochte überraschen, gar befremden. Aber mit Jonathan Demme („Das Schweigen der Lämmer“, „Philadelphia“) wurde ein in der Sache engagierter – und durch mehrere Dokumentarfilme über die Menschenrechtssituation in Haiti legitimierter – Regisseur gefunden, der sich für die werkgetreue Umsetzung verbürgte. Dialoge, Kostüme und Schauplätze stimmen bis ins kleinste Detail mit denen des Originals überein.

Doch „Menschenkind“ ist kein Kostüm- oder Historienfilm, sowenig wie Morrisons Vorlage im strengen Sinne ein historischer Roman ist. Präsentiert der Roman verschiedene Stimmen und verwebt dabei die Fäden verschiedener Erzählstränge, konzentriert sich der Film hauptsächlich auf Sethes Geschichte – was sicher nicht nur der Tatsache, daß Oprah Winfrey gleichzeitig Hauptdarstellerin und Produzentin ist, sondern auch einer gewissen erzählerischen Ökonomie geschuldet ist.

Wir sehen eine Frau, die versucht, ihre Vergangenheit auf Distanz zu halten, die sich um den Preis der Einsamkeit ein geregeltes Leben erarbeitet hat, an dem nur das gelegentliche Rumoren eines Geistes rüttelt. Wie andere Frauen ihre Haushaltspflichten erledigen, so geht Sethe mit dem Geist um. Die heruntergefallenen Teller werden klaglos aufgehoben, dem Hund das herausgefallene Auge wieder in die Augenhöhle zurückgestopft. Doch als die unerwarteten Besucher auftauchen, platzen die Träume vom Leben ohne Vergangenheit. Wie Bildstörungen im Bewußtseinsfilm durchbrechen alptraumhafte Erinnerungsfetzen in Form von Kürzest-Flashbacks die beschauliche, aber nie idyllische Oberfläche ihres Alltagslebens.

„Menschenkind“, das Mädchen, ist bei Toni Morrison eine mehrfach kodierte Figur. Zum einen ist sie der fleischgewordene, wiedergeborene Geist, der als wirkliche Figur der Handlung in Erscheinung tritt, zugleich kann sie aber auch als übernatürliche Manifestation der Geschichte, als Gedankenfigur gelesen werden: als Allegorie auf die Macht der persönlichen und kollektiven Geschichte. Von dieser Geschichte wird der einzelne heimgesucht, ihr muß er sich stellen – wobei Menschenkind schließlich der lebendige Beweis ist, daß Wieder-Erinnerung physische Auswirkungen hat.

Wie aber verfilmt man eine solch komplexe Erzählung? Einen Roman, in dem es – wie Georg Seeßlen bemerkt – „zugleich um ein Kapitel aus der Befreiung von der Sklaverei, um die Emanzipationsgeschichte eines jungen schwarzen Mädchens, eine traumatische Familiengeschichte und nicht zuletzt um eine Geistergeschichte“ geht? Geschichten, für die das Hollywood-Kino jeweils eigene Formen und Konventionen gefunden hat, die einander aber eher entgegen- als zuarbeiten? Wie soll man das Wirken einer quälenden Erinnerung zeigen, das sich in einer Figur bündelt, die eher in thematischer als in tatsächlicher Hinsicht ein Geist ist? Wie stellt man überhaupt einen Geist dar? Thandie Newton löst diese Aufgabe mit Bravour, weil sie ihre Figur nicht nur als wandelnde Metapher für eine schreckliche Vergangenheit interpretiert, sondern sie als eine zwar etwas kindische und leicht behinderte, aber äußerst sinnliche, zuckend-spuckend-jammernd-fordernd präsente Person spielt und damit die literarische und symbolische Funktion an die physisch konkrete Wahrheit koppelt.

Jonathan Demmes Verfilmung versucht auf behutsame Weise, dem Thema der Romanvorlage gerecht zu werden. Und über weite Strecken gelingt es ihm, die Verschränkung von konkreten und metaphorischen Bezügen, die den Roman auszeichnen, zumindest als Ahnung mitschwingen zu lassen. Über die genrehafte Inszenierung der (wenigen) Geistszenen kann man geteilter Meinung sein. Demmes Phantastik beschränkt sich freilich weitgehend darauf, in den entsprechenden Szenen mit Rotlicht zu arbeiten. Daß Tische beginnen, sich von alleine zu bewegen, ist Horror genug.

Amerikas Trauma

Wenn Geschichte, wie Morrisons Roman zeigt, Bedeutung erhält, sobald sich die einzelnen über ihre Versionen der Geschichte zu verständigen beginnen, dann kann „Menschenkind“ durchaus als „Wirkungsgeschichte“ der Sklaverei gelesen werden. Genau dies unterscheidet aber den Roman vom Film, der durch seine weitgehende Konzentration auf die Hauptfigur Sethe das persönliche Trauma seiner Heldin in den Vordergrund stellt, während das kollektive Trauma, das Trauma Amerikas im Hintergrund verschwindet. Darüber kann auch der Schluß des Films nicht hinwegtäuschen, als Denvers Initiative, auf die schwarze Gemeinde Cincinnatis zuzugehen, zu einer Lektion in angewandtem Kommunitarismus wird, die ihren Höhepunkt darin findet, daß die schwarzen Frauen gemeinsam den bösen Geist der Vergangenheit vertreiben.

„Menschenkind“. Regie: Jonathan Demme. Mit Oprah Winfrey, Thandie Newton, Danny Glover u.a. USA 1998, 171 Min.