Tonspur-Experimente

Wie die Kunst das Kino fortschreibt: Der Sound des Katastrophenfilms bei Cinéma Cinéma in Eindhoven und der Schweiß des Dirigenten bei Douglas Gordon in Köln  ■   Von Harald Fricke

Der Garten des Van-Abbé-Museums in Eindhoven ist sehr übersichtlich gehalten. Zwischen einem roten Ahorn und drei kleinen Marmortischen hat der Schweizer Künstler Christoph Draeger eine Blockhütte aufgebaut. Innen mit billiger Kiefer ausgekleidet, kommt man sich wie in einer Sauna vor. Irgendwann ploppt es allerdings aus einer der vier in die Wände eingelassenen Baßkalotten, dann noch einmal, und schließlich bebt die Hütte unter einem gewaltigen Lärm, vor dem bereits am Eingang Menschen mit einem schwachen Herz gewarnt werden. Immerhin pumpen und schieben sich allerlei Niederfrequenzen durch den Körper, ehe eine Stimme vom Band verkündet:„The worst is over.“ Danach ist alles wieder ganz still im Garten.

Draegers Klanginstallation basiert auf der Tonspur des Katastrophenfilms „Earthquake“ von 1974. Sein Eingriff besteht lediglich aus dem Tieferlegen der Bässe – und der Hütte natürlich. Aber warum sollte man einen solchen Aufwand in Sachen Seventies-Trash betreiben, wenn am Ende nicht einmal der Film zu sehen ist? Tatsächlich recherchiert Draeger seit einigen Jahren über Katastrophen – vom realen Tankerunglück bis zum gespielten Erdbeben in L. A. Dieser Brückenschlag zwischen Fakt und Fiktion macht ihn zu einem role model für zeitgenössische Kunst, in der man reale und imaginierte Welten nicht mehr trennen soll. Nach der Ikonenmächtigkeit von Pop-art, den diskursiven Praktiken der Konzeptualisten und den Alltagsverdoppelungen à la Jeff Koons kann man sich Ende der neunziger Jahre im Kunstbetrieb mit dem Zugriff aufs Kino in einer twilight zone einrichten. Es ist die Konstruktion von Atmosphären, die vom Film zur Kunst führt: Allein die Vorstellung, daß im Film en detail Lebenswelt durchgespielt werden kann und sich die Handlung doch in jedem Moment als höchst unwirkliches Procedere – womöglich zwischen lauter Kulissen – entpuppt, ist für Künstler einigermaßen verführerisch: Wie weit läßt sich der Fake von Realität ausreizen?

Entsprechend bewegt man sich in der Eindhovener Ausstellung „Cinéma Cinéma“ wie in einem Kabinett aus Traumbildern, blickt bei Eija-Liisa Ahtilas Videowänden auf schmerzgebeugt schreiende Hausväter oder findet bei Joachim Koesters Fotografien den dänischen Kifferstaat Christiania als menschenleere Endzeitsiedlung wieder. Sharon Lockhart inszeniert ihre einsamen Teenager wie eingefrorene Filmstills aus einem imaginären Tagebuch, bei Julie Becker darf man der durchgeknallten Vorstellung folgen, daß Pink Floyds „Dark Side Of The Moon“ insgeheim den Soundtrack zu „The Wizard Of Oz“ darstellt.

Dabei liegt es nicht allein am Larger-than-life-Effekt der diversen Großbildprojektionen, daß man sich auf den Umgang mit Film einlassen mag, obwohl fast alle Arbeiten bloß mit Zitaten aus weithin bekannten Filmen spielen. Es ist vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die Images aus dem Massenmedium längst in den eigenen Alltag rüberlappen, die dem Publikum all die vorgeführten künstlerischen Strategien so vertraut erscheinen läßt. Das Staunen kehrt auf der Folie des Bekannten zurück – man hat die selben Bilder schon einmal gesehen. Nur eben ganz anders. Wenn Douglas Gordon für „Between Darkness and Light“ auf einer Leinwand per beidseitiger Projektion den „Exorzist“ mit dem Heiligenepos „Das Lied von Bernadette“ von 1937 collagiert, schimmert je nach Betrachterposition entweder der Teufel in Linda Blair oder das Leben unter Nonnen durch. Gegen Ende schwebt das besessene Kind in blaues Licht getaucht über dem schwarzweiß gefilmten, hellerleuchteten Kloster, vor dem sich eine aufgebrachte Menschenmenge versammelt hat, um das Wunder von Lourdes zu sehen. Dann ist bei Gordon der Rausch der Religion auch ein Triumph der Apparatur.

Fiona Banner nimmt sich für ihre eng beschrifteten Leinwände Vietnamfilme vor, die sie als Fließtext atemlos nacherzählt. Für „The Nam“ von 1997 hat die Britin die Stories noch einmal auf Tape gesprochen. 22 Bänder und etwa 20 Stunden lang kann man den Darstellungen des Vietnamkriegs folgen, der, so Banners Überlegungen, erst durch den persönlichen Zugriff erinnerbar wird. Gleichwohl ist diese Art der historischen Vergewisserung mühevoll vor dem Videorecorder abgesessen worden.

Neben Banners Mammutwerken beschäftigt sich vor allem der Franzose Pierre Bismuth mit den Übertragungsmöglichkeiten von filmischer Darstellung auf ein anderes Medium. Auch Bismuth reduziert: Seine Version von Michelangelo Antonionis „Beruf: Reporter“ besteht aus zahllosen Sequenzen, bei denen eine Sekretärin zeitgleich auf der Schreibmaschine mitschreiben soll, was sich auf der Tonspur des Films ereignet. Schlagwortartig transkribiert sie Vogelzwitschern und Gesprächsfetzen auf einem Flughafen oder hält fragmentarisch einige Dialoge zwischen Jack Nicholson und Maria Schneider fest. Dabei verschwindet die ursprüngliche Filmfassung zugunsten eines Hörspiels, dessen Text per Videoprojektor an die Wand geworfen wird. Das abgenagte narrative Gerüst ähnelt zwar eher den trockenen Schriftarbeiten von Lawrence Weiner, dafür wird jedoch der Konflikt zwischen Sound und Bild offensichtlich. Es ist nicht mehr die Spannung zwischen den Bildern und der Sprache, wie sie bei René Magritte zum Vorschein kam: Der Text erzählt in einer völlig anderen Atmosphäre, als sie der Ton unmittelbar auslöst.

Meistens liegt gerade im Remix eine ungeheure Distanz zu den Bildern. Über David Lynch hat Georg Seeßlen geschrieben, daß seine Filme in einer „nichtlinearen Welt, in einer Welt, die Atmosphäre durch ihre Selbst-Widersprüche erzeugt“ angesiedelt seien. An diesem Punkt setzt auch die Arbeit von Pierre Huyghe an: Sein „L'Ellipse“ von 1998 ist um eine Szene aus Wim Wenders' „Der amerikanische Freund“ gebaut. Im Original sieht man Bruno Ganz telefonieren, während er in der nächsten Einstellung schon seine Gesprächspartner vom Augenblick zuvor in einem völlig anderen Apartment trifft. Huyghe hat den Schnitt dazwischen genutzt und Ganz zwanzig Jahre später die logische Verzahnung der beiden Situationen nachspielen lassen. Nun kann man dem mittlerweile ergrauten Schauspieler dabei zuschauen, wie er aus seinem damaligen Hotel über eine Seinebrücke spaziert und in einen hochmodernen Gebäudekomplex einbiegt. Nebenbei hält Huyghe damit den urbanen Wandel von Paris fest, für deren Baustellen sich Wenders in den siebziger Jahren so sehr begeistern konnte. So wird die Zeitlücke im Film leichter Hand mit Zeitgeschichte aufgefüllt.

Dennoch bringt das Allover der Gestaltungstechniken diverse Probleme mit sich. Durch die räumliche Nähe der Arbeiten verliert im Ausstellungsparcours sich ein Großteil der filmischen Dialoge in einem bedrohlich anschwellenden Gemurmel. Zum anderen bleibt die vorgestellte Faszination an der „cinematic experience“, die der Untertitel der Ausstellung ankündigt, allein auf gefilmtes Material beschränkt. An einem Kommentar auf die wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verflechtungen von Film als größter Marktfaktor innerhalb der Unterhaltungsindustrie ist man auf Künstlerseite nicht sonderlich interessiert. So bleibt alles ein Spiel mit ästhetischen Phänomenen, während der Bruder von Douglas Gordon im Katalog zumindest davon spricht, daß seine Erfahrungen mit Kino vom Schlangestehen für „Star Wars“ über die Analyse französischer Autorenfilme bis zu seiner veränderten Wahrnehmung reicht, die Scorceses „Taxi Driver“ mit sich bringt, wenn man den Film zu Hause bei Chips und Bier auf Video im Schnelldurchlauf durchzappt. Spätestens mit dieser Einstellung zum Kino zerfällt die „cinematic experience“ in diffuse kulturelle Praktiken.

Aus diesem Grund hat Douglas Gordon selbst einen Spielfilm gedreht. Das Ergebnis kann man derzeit unter dem ein wenig schmucklosen Titel „Feature Film“ im Kölnischen Kunstverein sehen. Als Preisträger der Central Versicherung mit einem Budget von 250.000 DM ausgerüstet (plus etlichen Sponsorengeldern) hat der schottische Videokünstler ein seltsames Remake von Hitchcocks „Vertigo“ gedreht. Gordon ließ James Conlon, Chefdirigent der Opéra National de Paris und Generalmusikdirektor der Stadt Köln, die Partitur zum Original-Soundtrack von Bernard Herrmann mit seinem Pariser Orchester nachspielen. Während der Aufnahmen, die parallel zur Ausstellung als CD vorliegen, wurde Conlon nach Gordons Anweisungen von vier Kameras gefilmt – immer mit einem extremen Zoom auf den Körper des Dirigenten. „Feature Film“ setzt sich nun aus lauter Close-ups zusammen – 75 Minuten Anspannung, die sich von Conlon auf den Betrachter im Kunstverein überträgt. Immer wieder ist nur der Anschnitt des Gesichts zu sehen, ein Blitzen im Auge oder die gespitzten Lippen. Dann wechselt die Kameraposition, und plötzlich huschen nur noch schemenhaft die Handbewegungen des Dirigenten über die Bildfläche.

Folgt man bei alledem der Musik oder dem Bild? Gezielt spielt Gordon mit der Erinnerung des Betrachters, der von der Musik geleitet zurück in das Original von „Vertigo“ taucht. Man hört das Tremolo der Geigen und meint, nicht Conlon, sondern James Stewart als höhenängstlichen Detektiv zu sehen. Die Parallelführung von Gordons dramatisch zugespitzter Dokumentation und den abwesenden, doch stets herbeiimaginierten Bildern ist perfekt: Der Schweiß auf Conlons Stirn vermischt sich mit der Verzweiflung von Stewart oder Kim Novaks Tränen. Mehr noch: Indem Gordon seine Projektion auf den beiden Querwänden in dem sonst völlig leeren, bald fünfzig Meter langen Raum des Kunstvereins zeigt, wird der Besucher selbst zum Akteur der minimalistischen Inszenierung. Man wandelt zwischen Bildern, die sich im Gedächtnis mit Hitchcocks Phantasie vereinen. Der Künstler fügt mit seiner filmischen Adaption bloß einen unglaublich engen Rahmen hinzu, an dem man sich orientieren kann. Die Einschnürung ist vollkommen – wie in den Situationen, denen auch Hitchock seine Akteure aussetzt. Für den kinoversessenen Künstler ist damit auch ein Endpunkt erreicht: Er ist mit seinem Film im Film angekommen. Nicht als Zaungast, Zweitverwerter oder Archäologe, sondern als Interpret. Manche Künstler singen Beatles-Lieder nach, Gordon sieht statt dessen „Vertigo“ mit der eigenen Kamera noch einmal neu. Darin ist er Gus van Sants Remake von „Psycho“ weit voraus. Immerhin hat er nicht bloß Ehrfurcht, sondern auch Freude in der Wiederholung. Cinéma Cinéma, bis 25. 5., Van Abbé Museum, Eindhoven (Katalog: 65 Gulden) Douglas Gordon: Feature Film, bis 30. 5., Kölnischer Kunstverein (Katalog mit CD: 75 DM)