Schuld ist immer nur Milosevic

Lavieren, vertuschen und dann zurückrudern: Die Informationspolitik der Nato zu dem Angriff auf einen Flüchtlingstreck im Kosovo wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Auf der Strecke bleiben Wahrheit und Glaubwürdigkeit des Bündnisses  ■ Von Barbara Oertel

Irren ist menschlich – das gilt auch für Militärs in Kriegszeiten. Doch bei dem Angriff der Nato im Süden Kosovos am Mittwoch abend bei Djakovica blieben nicht nur die laut Angaben aus Belgrad 75 unschuldigen Zivilisten auf der Strecke, sondern auch die Wahrheit. Nach langem Lavieren räumte die Nato gestern nachmittag ein, bei Luftangriffen am Vortag sei „versehentlich“ ein ziviles Fahrzeug in einem Konvoi getroffen worden. Allerdings fühlte sich die Allianz bemüßigt, daran zu erinnern, daß die Umstände, die zu diesem Unfall geführt hätten, vollständig in der Verantwortlichkeit von Miloevic und seiner Politik lägen. Mit anderen Worten: Jugoslawiens Präsident ist auch am Tod dieser Zivilisten schuld.

Der britische Premierminister Tony Blair schlug in die gleiche Kerbe: Zwar sei es bedauerlich, daß Zivilisten zu den Opfern des Krieges gehörten. Dies dürfe jedoch nicht davon ablenken, daß allein Miloevic die Verantwortung für den Konflikt trage. Und sein Außenminister, Robin Cook, warf der serbischen Führung vor, „Krokodilstränen“ zu vergießen. Das könnte man eher ob der Verschleierungsversuche des Bündnisses tun. Noch Mittwoch abend hatte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Kenneth Bacon, behauptet, es gebe keineHinweise darauf, daß die getöteten Zivilisten durch einen Angriff der Nato ums Leben gekommen seien. Statt dessen wartete er mit der Theorie auf, möglicherweise seien die Zivilisten von serbischen Flugzeugen angegriffen oder von serbischen Soldaten als Vergeltung für einen Angriff der Nato auf einen Militärkonvoi getötet worden.

Auch Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping hatte am Mittwoch abend schnell eine passende Erklärung zur Hand: Alles deute darauf hin, daß serbische Artillerie das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet habe und dies dann als Fehler der Nato dargestellt werde.

Gestern morgen hieß es dann von der Nato, es rieche „nach einer von den Serben gestellten Sache“. Die Art der Bilder sowie der Zerstörungsgrad wiesen darauf hin. Außerdem habe es in dem Gebiet jugoslawische Luftbewegungen gegeben. Es sei daher möglich, daß die serbischen Truppen den Konvoi selbst angegriffen hätten.

Kurze Zeit später wollte Nato-Sprecher Jamie Shea eine Verantwortung des Bündnisses für den Tod der Zivilisten plötzlich nicht mehr ausschließen. Schließlich habe es in der Geschichte der Menschheit noch nie einen Konflikt gegeben habe, in dem keine „Unfälle“ passiert seien. Noch während Nato-Vertreter dabei waren, das Geschehen anhand von Videoaufnahmen „nachzuvollziehen“, mutierte der attackierte „Militärkonvoi“ zunächst zu einem „Militärkonvoi, in dessen Mitte sich einige zivile Fahrzeuge befanden“, hin zu einem „gemischt zivil-militärischen Konvoi“, der sich dann auch noch verdoppelte. So teilte die Nato mit, daß zwei ihrer Flugzeuge sowohl auf einen „eindeutig militärischen“ als auch einen „zivil-militärischen“ Konvoi geschossen hätten. Dabei habe es sich um zwei Angriffe gehandelt, deren Schauplätze dicht beieinander lägen.

Die Nato-Bomben trafen nur leider das falsche Ziel. Diese unerwünschten Nebenwirkungen, im Militärjargon „Kollateralschäden“ genannt, sind einkalkuliert – trotz des Einsatzes hochgelobter Präzisionswaffen. Der britische Luftwaffenkommodore David Wilby hatte schon zu Beginn der Angriffe gewarnt: „Wie sehr wir uns auch anstrengen: Die Gesetze der Statistik bedeuten, daß irgendwann etwas schiefgeht.“ Ein Oberst fügte gestern hinzu: „Es ist fast ein Wunder, daß das nicht schon früher passiert ist.“ Und genauso eines, wenn der Vorfall vom Mittwoch der letzte dieser Art gewesen wäre.