Belgrad: tausend tote Zivilisten

■ Tausende Kosovo-Albaner werden vertrieben. Die Flüchtlinge berichten über serbische Greueltaten. Bislang schwerste Bombenangriffe in Belgrad. UN-Sicherheitsrat sehr besorgt

Berlin (rtr/AFP/dpa) – Der Exodus aus dem Kosovo hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Wie das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) gestern in Genf berichtete, verließen innerhalb von 24 Stunden rund 10.000 Kosovo-Albaner ihre Heimat. „Sov iele Menschen sind seit zwei Wochen nicht mehr über die Grenzen gekommen“, sagte UNHCR-Sprecher Kris Janowski.

Tragische Szenen spielten sich in der Nacht an der Grenze zu Albanien ab, wo rund 3.600 völlig erschöpfte Vertriebene – ausschließlich Frauen, Kinder und alte Menschen – ankamen. Die Frauen berichteten, ihre Männer seien von den Serben abgeführt worden.

Der UN-Sicherheitsrat ist „sehr besorgt“ über die humanitäre Lage in der serbischen Provinz Kosovo und den Nachbarstaaten. Der Sicherheitsrat vermied es, der Regierung in Belgrad oder der Nato die Verantwortung für die Lage der Flüchtlinge zuzuweisen.

Ungeachtet der Kritik aus dem Vatikan verteilt die UNO die „Pille danach“ an vergewaltigte Frauen in den Flüchtlingslagern in Albanien.

Viele der Flüchtlinge, die aus Srbica, Prizren, Istok und Djakovica kamen, hatten auf Befehl der Serben vier Tage lang marschieren müssen. Zuvor waren sie nach eigenen Angaben tagelang von den Serben in Schulgebäuden festgehalten worden. Bei ihrer Ankunft in Albanien litten viele an Flüssigkeitsmangel.

Etwa 5.000 Kosovo-Albaner überquerten seit Mittwoch die Grenze nach Makedonien. Sie kamen teilweise mit Zügen an und wurden von den Serben zum Grenzübergang getrieben.

Deutschland wird angesichts des Flüchtlingselends in den Kosovo-Anrainerstaaten nach den Worten der Ausländerbeauftragten, Marieluise Beck, die Aufnahme von Flüchtlingen verstärken müssen. „Wir wissen, daß das Kontingent von 10.000 nur der erste Schritt sein kann“, sagte die Grünen-Politikerin gestern in Bonn.

Die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, Claudia Roth (Grüne), forderte die „großzügige Aufnahme“ von Flüchtlingen in Deutschland. Die Länder in der Region seien an einem Punkt angekommen, „wo einfach nichts mehr geht“. Allein Albanien, das „Armenhaus Europas“, habe bisher rund 315.000 Flüchtlinge aufgenommen.

Bis Mittwoch abend waren rund 7.900 Kosovo-Vertriebene in Deutschland aufgenommen worden. Sie hatten in Makedonien Zuflucht gesucht und wurden der Bundesregierung durch Hilfsorganisationen vor Ort als besonders versorgungsbedürftig vorgeschlagen. Die bayerische Sozialministerin Barbara Stamm hat das UNHCR wegen der Auswahl der nach Deutschland ausgeflogenen Kosovo-Albaner kritisiert. Stamm sagte gestern in München,ernsthafte Krankheitsfälle, bei denen eine medizinische Behandlung in Deutschland dringend notwendig gewesen wäre, habe es zumindest in Bayern kaum gegeben.

Die jugoslawische Hauptstadt Belgrad ist in der Nacht zum Donnerstag nach serbischen Angaben von fünf oder sechs Explosionen erschüttert worden. Bewohner sprachen von der schlimmsten Bombennacht seit Beginn der Nato-Angriffe vor drei Wochen. Die jugoslawische Armee habe mit Luftabwehrfeuer reagiert. Das Fernsehen Studio B berichtete, im Stadtteil Rakovica sei eine Kaserne getroffen worden. Die amtliche jugoslawische Nachrichtenagentur berichtete über Angriffe im Süden Jugoslawiens und nannte die Städte Krusevac, Cacak, Kragujevac, Valjevo und Uzice als Ziele. In der Ortschaft Jasika wurde danach kurz nach Mitternacht eine Brücke von zwei Raketen getroffen und zerstört.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan rief nach Angaben von Diplomaten im Sicherheitsrat Jugoslawien auf, zwei unter Spionageverdacht festgenommene australische Helfer sofort freizulassen. Eine entsprechende Resolution im Sicherheitsrat sei an Rußland gescheitert.

Im albanischen Bezirk Tropoje nahe der Grenze zum Kosovo haben sich nach Angaben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gestern drei heftige Detonationen ereignet. Serbische Einheiten nehmen seit rund einer Woche Grenzposten und albanische Dörfer nahe der Grenze unter Beschuß.

Durch die Nato-Angriffe der vergangenen drei Wochen sind nach Darstellung der Regierung in Belgrad tausend Zivilisten getötet worden. Darüber hinaus seien mehrere tausend Zivilisten verletzt worden, sagte der jugoslawische Außenamtssprecher Nebojsa Vujovic am Donnerstag vor Journalisten in Belgrad. Es war das erste Mal, daß die Belgrader Regierung eine Gesamtzahl der Zivilisten nannte, die durch die Nato-Angriffe zu Schaden gekommen sein sollen.