Einzelschicksale überall

Die taz wurde einst gegründet, um Gegenöffentlichkeit zu stiften. Doch die Erfinder der alternativen Berichterstattung sind mittlerweile von allen nur erdenklichen Teilöffentlichkeiten eingeholt worden. Vom Unterschied zwischen unterbliebenen und unterdrückten Nachrichten schreibt  ■ Heide Platen

Auf einem meiner Zettel steht zu lesen: „Der Wert einer Nachricht bleibt gering, solange sie im Goldfisch steckt, doch ans Tageslicht gebracht, fängt sie sogleich zu leuchten an.“ Nonsens, hastig hingekritzelte Lyrik? Nein, die Antwort auf eine stockfischtrockene Frage: „Gibt es heute noch unterdrückte Nachrichten, noch Gegenöffentlichkeit?“ Karl-Heinz Bender, Promoter freier Radios in den achtziger Jahren, deklamierte: „Öffentlichkeit ist Öffentlichkeit ist Öffentlichkeit und nicht teilbar.“

Gegenöffentlichkeit hat es, meint er, nie gegeben. All die klugen Bücher, die Diplom- und Doktorarbeiten über alternative Medien, Interviews und Betroffenenberichte also umsonst geschrieben? Alternative Öffentlichkeit als Fußnote aus bundesdeutscher Vergangenheit? Ihr erstes Credo war (und ist) die Betroffenheit. Die tonangebenden Medien beweisen es.

Szenenwechsel. Ein Titelbild, ein Mann, den Kopf leicht geneigt, die Haare moderat zerrauft, die Stirn in Falten, Kinn und Wangen mäßig rasiert, der Blick ernst, traurig, aber dennoch offen und auf den Betrachter gerichtet, die rechte Hand ruhig und schützend zugleich vor dem Oberkörper auf die Tischplatte gelegt, am Finger ein goldener Ehering: „Herbert Grönemeyer – Das erste Interview nach dem Tod seiner Frau – seine Trauer“. TV-Moderator Roger Willemsen spricht für den Stern mit dem Sänger, dessen Frau und Bruder vor vier Monaten kurz hintereinander starben: „In welcher Verfassung bist du?“ Grönemeyer sagt im O-Ton-Interview viel dazu, Sätze, die auch von Grönemeyer gesungen sein könnten: „Alle Antennen nach außen sind gekappt.“

Ein berühmter Betroffener soll die Leser betroffen machen. Den Unterdrückten, den Marginalisierten, denen, die keinen Zugang zu den damals sogenannten „bürgerlichen“ Medien hatten, eine Stimme, ein Gesicht zu geben, das war eine der ehrenwerten Intentionen des 1973 von einer Handvoll ausgestiegener Profijournalisten gegründeten Informationsdienstes zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (kurz: ID), der sich selbst als undogmatisch links definierte und keiner politischen Gruppe zugehörte. Sie galten als die ErfinderInnen der Betroffenenberichterstattung und veröffentlichten ellenlange O-Ton-Interviews, ehe dieses Genre zum journalistischen Allgemeingut wurde.

Betroffene schrieben selbst auf, was ihnen widerfahren war. Diese Betroffenheit hat sich selbst befreit, ist aus den alternativen Nischen herausgetreten, auf die breiteste Öffentlichkeit losgelassen, journalistischer Standard geworden. Eines der ersten Magazine, die die neue Form adaptierten, war der Stern, der Ende der siebziger Jahre fast minutiös die Drogenkarriere der Christiane F. veröffentlichte.

Die Geschichte machte Auflage, das tragische Einzelschicksal wurde zum Massenerlebnis. Betroffenheit wurde zugleich zum Wert an sich und zur Kunstform, bei der die Befindlichkeit des einzelnen ausgestellt werden kann. Tina und Nina, Daniel und Moritz haben inzwischen in Workshops und Selbsterfahrungsseminaren gelernt, sich selbst darzustellen, sich „einzubringen“, weil sie „irgendwie betroffen“ sind von allem und jedem und das nicht mehr bei sich behalten wollen.

Die Betroffenheit hat derweil gelitten. Aber das interessiert die Journalistenschulen nicht, wo immer noch gelehrt wird, daß jeder Sachverhalt zu subjektivieren sei. Kein Parteitagsbericht wird mehr gedruckt, der nicht eine Einzelperson mit ihrem wie auch immer gearteten Erleben durch den Text schleppt. Personalisierung scheint alles; das langweilige Allgemeine gilt es, zwanghaft in das vermeintlich so spannend Individuelle zu transferieren.

Das hat Folgen. Szenenwechsel: RTL am frühen Nachmittag. Täglich und abertäglich kommen sie zu Wort, die Betroffenen, bei Christen, Karalus, Schäfer, Meiser. Menschen mit allerlei Gebresten, solche, die ihren Partner hassen, lieber mit dem Hund ins Bett gehen, Kleptomaninnen, von Ämtern Schikanierte, Wütende und Traurige – Betroffene eben.

Sie müssen sich den Zugang zum Medium nicht mehr mühsam erkämpfen, werden vielmehr händeringend in Anzeigenblättern gesucht oder persönlich angesprochen, sobald sie auch nur die eine oder andere nennenswerte Anomalie in Alltag, Physis und Psyche aufweisen und darüber reden wollen und können. Das Privateste wird öffentlich.

Betroffenheit geriet zum Klischee, Emphase wurde durch den Vorführeffekt ersetzt. Das haben wir nicht gewollt. Aber seien wir ehrlich: Diese Geister haben wir gerufen. Spezialmedien als Rächer der Entrechteten, als Anwälte der Enterbten gibt es zuhauf. Minderheiten und Randgruppen haben heutzutage im immer kleinteiligeren Medienmarkt ihre Teilöffentlichkeiten; es gibt Schwulen- und Lesbenblätter, Obdachlosen- und Stadtteilzeitungen, Junkiegazetten, Mitteilungsblätter für Tier- und Umweltfreunde, für Musikrichtungen, Jugendkulturen und Minigrüppchenfanzines. Kommunikation im Überfluß – nicht zuletzt dank Chatroom, E-Mail und Internet.

Schon die Kinder quixen. Und nicht etwa, wie die Gerätewerbung suggeriert, nette Nachrichten wie „Bitte bring die Zeitung mit“. Quixen ist die Fortsetzung des Klospruchs mit elektronischen Mitteln: „Robi fickt Angela“. Der Rest derjenigen, die nicht und nirgendwo zu Wort kommen, ist gering und lebt mehrheitlich anderswo auf diesem Planeten. Das, was die ersten Alternativmedien in Europa und den USA von den heutigen Spezialöffentlichkeiten unterschied, war ihre Parteilichkeit, ihre politische Ausrichtung. Und die war vor allem links in jeder Farbschattierung von dogmatisch Rot bis Bunt und Grün.

Die MacherInnen kämpften auf dem Papier und auf den Ätherwellen für soziale Gerechtigkeit, stets auf seiten der Betroffenen von Massenentlassungen, von Behördenwillkür, Verfolgung, Gefängnis, Armut, Ausbeutung. Und sie waren, mehr oder minder differenziert, aber immer eindeutig gegen vielerlei: gegen Kapitalismus, Krieg, den Staat, die Behörden, die Polizei, die Atomenergie, die Umweltverschmutzung. Und gegen die Zensur. Verbotenes zu tun war der Reiz. Verstöße gegen Gesetze, Regeln und Tabus geschahen einvernehmlich: Das falsche Impressum, die Beleidigung, der Aufruf zur Untat – Sprayen, Schwarzfahren, Totalverweigerung, bewaffneter Kampf.

Von unterdrückten Nachrichten war seinerzeit im lose zusammengehefteten ID, das als „Mutter der Alternativzeitungen“ galt, dennoch bewußt nicht die Rede. „Unterbliebene Nachrichten“ stand im Untertitel. Und zu denen gehörten eben nicht nur die durch staatliche Zensur oder journalistische Auswahlkriterien nicht öffentlich gewordenen Nachrichten, sondern auch der Traum vom Anderssein, von Authentizität, von Gerechtig- und Gemeinsamkeit – im schlechtesten Falle immer gleich für die ganze Menschheit.

Zurück zur Ausgangsfrage: Gibt es noch Gegenöffentlichkeit? Manchmal ist eine Frage, heute gestellt, gestern schon beantwortet worden, etwa 1972 von Oskar Negt und Alexander Kluge: „Der Begriff Öffentlichkeit ist ursprünglich eine der revolutionären Kampfparolen des Bürgertums... Öffentlichkeit ist – nach Kant – Prinzip der Rechtsordnung und zugleich Methode der Aufklärung, das einzige Medium, in dem sich Politik des revolutionären Bürgertums überhaupt entfalten kann. Die Emphase dieses Prinzips der Öffentlichkeit wird deutlich in dem, was dabei in Kauf genommen wird: Geheimbünde sind zum Beispiel generell ungeeignet, an wahrer Politik teilzuhaben.“

Oder anders herum: Gegenöffentlichkeit ist auch nur die Herstellung von Öffentlichkeit. Kluge macht Privatfernsehen, Radiopionier Bender schreibt Gedichte.

Heide Platen, 52, lebt in Frankfurt am Main, volontierte Ende der Sechziger bei der Wolfsburger Allgemeinen Zeitung , arbeitete später beim ID, ehe sie 1982 zur taz kam – und bis heute als Reporterin blieb