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Hundertfacher Tod durch Grippe

Zusammen mit 227 anderen Behinderten wurde Irma Sperling im April 1943 aus Alsterdorf deportiert. Ein Rundgang erinnert daran  ■ Von Heike Dierbach

Die Diagnose, die Dr. Kreyenberg in die Akte ihrer Schwester schrieb, weiß Antje Kosemund auswendig: An „Schwachsinn erheblichen Grades“ habe Irma Sperling gelitten, zu erkennen unter anderem an einer „flachen, hohen Stirn“. Empört zeigt Antje Kosemund dazu das einzige Foto, das sie von Irma hat, aufgenommen 1933 oder '34. Ein niedliches Mädchen spielt im Garten der Alsterdorfer Anstalten. Zehn Jahre später ist es tot. Zusammen mit 227 anderen Frauen und Mädchen wurde Irma Sperling am 16. April 1943 in die Wagner-von-Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt Wien deportiert, weil sie, wie Kreyenberg erklärte, als „besonders tiefstehend“ galt. Am 8. Januar 1944, zwei Wochen vor ihrem 14. Geburtstag, wird sie dort ermordet. Die Willi-Bredel-Gesellschaft lädt morgen zu einem Rundgang mit Film und einem Bericht zum „Schicksal von Irma Sperling und anderen Euthanasieopfern der Alsterdorfer Anstalten“ ein.

Erfahren hat Antje Kosemund das erst 1983 – durch Zufall. Als sie mit ihrem Vater dessen Papiere sortierte, fiel ihr Irmas Sterbeurkunde in die Hände: Ausgestellt vier Tage vor deren Tod. Als Todesursache werden – wie bei „Euthanasie“-Morden üblich – Grippe und Lungenentzündung genannt. „Da wußte ich gleich Bescheid“, erinnert sich die 70jährige.

Ob ihrem Vater die Ungereimtheiten aufgefallen sind, weiß Kosemund nicht. „Er wollte nie darüber sprechen, und irgendwie kann ich das verstehen.“ So konnte sie auch nicht klären, ob die Eltern Irmas Einweisung nach Alsterdorf zustimmten. Bis dahin hatte die Schwester „einfach dazugehört. Sie war etwas zurückgeblieben, aber für uns war das nichts Absonderes.“

Da die Mutter oft krank ist, kümmern sich die Schwestern – die Familie hat zwölf Kinder – um Irma. Bis 1933 die Familienfürsorge kommt. „Die haben ihre Nase ja damals überall reingesteckt“, erzählt Antje Kosemund. Vielleicht seien es wirtschaftliche Schwierigkeiten gewesen, die die Eltern zustimmen ließen. Bruno Sperling war 1933 als Antifaschist vorübergehend verhaftet und arbeitslos geworden.

„In Alsterdorf wurden die Kinder damals nur versorgt“, weiß Antje Kosemund, „Therapien gab es nicht.“ Mangelnde Förderung ist auch der Grund, warum Irma in Alsterdorf immer aggressiver wird und erworbene Selbstständigkeiten wieder verlernt, schreibt Michael Wunder, heutiger Leiter der Alsterdorfer Anstalten in dem Buch Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. 1943 wird Irma das zum Verhängnis. Die Anstaltsleitung selektiert jene Patientinnen, die in der Pflege Mühe machen, „aufsässig“ oder „faul“ sind. In Wien müssen sie hungern, Irma nimmt in den ersten acht Wochen zwölf Kilogramm ab. 195 Patientinnen aus Alsterdorf sterben aufgrund von Unterernährung oder Überdosierung von Medikamenten. Was mit ihrer Schwester kurz vor ihrem Tod genau geschah, weiß Kosemund nicht – nur, daß sie für medizinische Versuche mißbraucht wurde. „Vielleicht ist es auch besser, daß ich es nicht genauer weiß.“

Für sie sind die schrecklichen Erkenntnisse über das Schicksal ihrer Schwester 1983 noch nicht zu Ende. 1994 sieht sie eine Fernsehsendung über die Pathologie des Psychiatrischen Krankenhauses „Baumgartner Höhe“ in Wien. Auf langen Holzregalen lagerten in dessen Keller Dutzende von Gläsern mit den Gehirnen von „Euthanasie“-Opfern. In dem Film wurde darauf hingewiesen, daß man erwäge, den Keller samt Gläsern zur Gedenkstätte zu machen. Antje Kosemund protestiert, schreibt Briefe an alle zuständigen Stellen: Sie möchte, daß die sterblichen Überreste der Hamburger Opfer hier beigesetzt werden. Mit Erfolg. 1996 werden die Opfer feierlich auf dem Geschwister-Scholl-Friedhof begraben. „Das war eine große Erleichterung“, erinnert sich Kosemund, „jetzt haben wir wenigstens einen Platz, wo wir Blumen hinbringen können.“

Treffpunkt für Rundgang, Film und Bericht: morgen, 15 Uhr, Haupteingang der ev. Stiftung Alsterdorf, Dorothea-Kasten-Straße

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