Es gibt immer noch kein' Lear auf Hawaii

Kartoffelsalat bei Castorf, Ostermeiers Karriere und Schlingensiefs Mischung aus Logghorroe und festgefressenem Welterlösungswahn: Warum die Berliner Theater weit weg vom Metropolenformat sind und auch kaum zu Hoffnungen Anlaß geben  ■ Von Klaus Nothnagel

Die Berliner Theaterlandschaft ist, entgegen ihrem außerhalb immer noch kolportierten guten Ruf, eine trübe Ruine; jedes bißchen Qualm, das da noch aufsteigt, wird von frustrierten Kritikern in Ermangelung besserer Aufgaben zum Ereignis der Saison hochgelogen. Die Schaubühne, als letztes noch verbliebenes Großtheater Westberlins, wird demnächst von einem Jungregisseur geleitet, der noch keine zwei Dutzend Inszenierungen hinter sich hat und an der Baracke des Deutschen Theaters bisher vor allem mit radauhaltigen, aktionistischen Zeitstücken Sensation gemacht hat, die gern mal „Ficken“ im Titel führten, sonst aber nur durch sprachliche, dramaturgische und ideologische Dumpfheit auffielen. Wer Ostermeiers erste große Inszenierung, „Der blaue Vogel“ von Maeterlinck, durchlitten hat, beißt sich jetzt schon auf die Nägel bei der Vorstellung, dieser großmäulig- ungelenke Eleve könnte sich an Kleist oder Büchner vergreifen.

Wer soll dem künftigen Schaubühnen-Chef Konkurrenz machen an den anderen verbliebenen Häusern der Stadt? An Frank Castorfs Volksbühne wird sicher weiter mit Kartoffelsalat geworfen – allein schon, weil der Schmadder in der ungenießbaren Berliner Industrieversion spottbillig zu haben ist. Seit Jahren erfreuen sich Inszenierungen wie Shakespeares „König Lear“, wo man in Eimer pißte und fröhlich-debil „Es gibt kein' Lear auf Hawaii“ sang, rätselhafter Beliebtheit bei Jugendlichen aller Altersklassen.

Jeder könnte hier sofort fröhlich mitschreien und toben und rennen und mit Salat schmeißen – gern in dieser, gern aber auch in beliebiger anderer Reihenfolge. Das interaktive Theater steht hier unmittelbar bevor: Der Zuschauer bekommt beim Kauf der Eintrittskarte den Text, liest ihn während der Vorstellung mit und votiert vermittels eines Schalters an seinem Sitz jeweils für seine zuzuordnende Lieblingsaktion (Schreien, Toben, Rennen, Salatschmiß) – die Mehrheit entscheidet, was das spielende Personal, anything goes, von Szene zu Szene zu kaspern hat. Gut möglich, daß dieser entschlossene Schritt in eine zukunftstaugliche Dramaturgie von Christoph Schlingensief getan wird: das Jekami-Theater (Jeder kann mitmachen) praktiziert der katholizismusgeschädigte Selbstdarstellungsberserker ja bereits seit mehreren Spielzeiten. Schlingensiefs Mischung aus Logorrhoe und festgefressenem Welterlösungswahn schwingt sich dieser Tage bekanntlich zu neuen, ungeahnten Höhen auf: Flüchtlinge aus dem Kosovo will der Universaldilettant in der Berliner Volksbühne lagern; sollten sie wirklich kommen, müßte man wohl befürchten, daß die erlittenen Qualen der Flüchtlinge sich in der Rekrutierung als Publikum für die Vorstellungen des Großschwadroneurs fortsetzen würden.

Merkwürdig, daß kein Mensch (oder jedenfalls kein Kritiker) sich aufrafft, zu sagen: Ostermeier ist doch allenfalls ein markt- und karrierebewußter Meister der Selbst- PR und sterbenslangweiliger spätpubertärer Provokateur; Castorfs Masche von Stückezerlegen und kalkulierter Regelverletzung ist tot gewesen vom ersten Versuch an – und Schlingensief ist, geradeaus gesagt, Showbusiness von Bekloppten für Bekloppte.

Hätte Berlin wenigstens eine hochklassige stockkonservative Literaturühne zum Ausgleich – das Elend wäre halbwegs erträglich. Das Deutsche Theater, dem diese Rolle zufiele, bringt selbst mit Karl-Ernst Herrmann als Bühnenbildner und dem früheren Schaubühnen-Dramaturgen Dieter Sturm nur ausnahmsweise Diskutables zustande (Botho Strauß' „Ithaka“ z.B.). Seit Jahren darf der Flopkönig Jürgen Gosch inszenieren, nicht ein einziger Hausregisseur der Intendanz Langhoff hat Publikum und Kritik auf Dauer öberzeugen können. Langhoff versucht die Hütte mit Fernsehbekanntheiten zu füllen: Sophie von Kessel, Nina Hosch und leider auch Klaus Löwitsch spielen am Deutschen Theater.

Woher Langhoff bei nicht wenigen seiner Schauspieler den Ruf hat, ein Förderer des Ensembles zu sein, bleibt rätselhaft: Mehrere fest engagierte Männer hätten zum Beispiel anstelle des matten Löwitsch Brechts Richter Azdak besser spielen können! Daß die Nichtverlängerung von Langhoffs Intendantenvertrag von der ehrwürdigen Althysterica des Ensembles, Käthe Reichel, zum West-Ost-Unterdrückungsakt umhalluziniert wurde, ist nicht einfach nur peinlich; das offene Gedicht, das Frau Reichel der Berliner Zeitung zum Druck anvertraute, stellt auch einen niederschmetternden Tiefpunkt zeitgenössischer Dichtkunst dar: „(...)Wir möchten jetzt sofort, wie vor zehn Jahren, uns unseren Intendanten selber wählen; / denn: wir sind das Volk und lassen den erkämpften Titel uns nicht stehlen, / Wir haben ihn an einem weltberühmten Tag errungen: in der ersten Reihe / am 4. November, Herr Senator, in der ersten Reihe“ (usw, usf) – was soll man von Schauspielern halten, die sich nicht genieren, mit derart in Aspik gehauenem Dreck an die Öffentlichkeit zu gehen?

Bleibt als Zukunftshoffnung nur Peymann. Seine künftige Intendanz am Berliner Ensemble zieht inzwischen gefährlich überdimensionierte Erwartungen auf sich – viele in der Berliner Theaterszene trauen, wenn überhaupt, nur dem Altmeister eine Initialzündung Richtung Qualität zu.

Das letzte wirkliche Theaterereignis, das ich hier erlebt habe, war keins: Peter Steins Kortner-Vorlesung an der Hochschule der Künste; zwei Jahre muß das her sein. Da war, in der ungeheuren Detailkenntnis wie im arroganten Urteil über Regiekollegen (s.o.), in der Lust am Entertainment wie in der wundersamen Sensibilität für Sprache und fürs Sprechen noch einmal großes Theater nachzuerleben. Wenigstens das.