Der Herr des Rocks und Reichstages

Einst holte er Barclay James Harvest und Michael Jackson gegen die Bundespräsidenten, seine Chefs, auf die Brache in Mitte, heute ist der Deutsche Bundestag sein Gast: Hans-Jürgen Heß, der Mann, der der heimliche Direktor des Reichtages war  ■   Von Annette Rollmann

Lange stand er mit Felipe González auf dem Balkon des Reichstages und schaute rüber zur anderen Seite. „Zorn und Wut über die eigene Ohnmacht“ hätten den damaligen spanischen Oppositionsführer und späteren Regierungschef ergriffen, als er, der Reformsozialist González, die real existierende sozialistische Verweigerung der Nähe so unübersehbar erlebte. Die beiden Männer hatten das Gebäude der Kammer der Technik der DDR vor Augen, hinter deren Fenstergittern sie nur schemenhaft Gestalten erkannten. Es kann und es wird nicht das Ende der Geschichte sein, hatten beide Herren zueinander gesagt und sich selbst nicht geglaubt.

Wenn heute im umgebauten Reichstag der Deutsche Bundestag zur ersten Sitzung nach dem Umbau zusammentritt, vollendet sich für Hans-Jürgen Heß das, „wofür wir seit Jahrzehnten gearbeitet haben: Der Deutsche Bundestag kommt nach Berlin.“ Heß ist seit 25 Jahren Leiter der Bundestagsverwaltung Berlin und „Herr des Reichstages“ , sein heimlicher Direktor, ein älterer seriöser Herr mit graumeliertem Haar im dunklen Zwirn, der nach dem Umzug des Bundestags seinen Titel verlieren wird. Die Geschichte nimmt ihren Lauf und ist nicht, wie einst befürchtet, an ihrem Ende angelangt.

Der 63jährige Heß hat von seinem alten Büro im Reichstag deutsche Geschichte und die der geteilten Stadt immer wieder live miterlebt. Noch im April 1989 hat er von seinem Fenster aus einen Fluchtversuch beobachtet. Gesehen, wie drei Männer durch die Spree schwammen, zwei das rettende Ufer des „freien Westens“ erreichten und im Gebüsch verschwanden. Der Dritte wurde von den DDR-Grenzern, die sich in „höllischem Tempo“ mit einem Patrouillenboot näherten, aus dem Wasser gezogen. Tags drauf erschien bei Heß der britische Stadtkommandant und erkundigte sich en detáil nach dem Vorfall. „Wenige Tage später ließ er Strickleitern am Ufer befestigen, damit die Flüchtlinge schneller aus dem Wasser die Böschung hochkämen“, erinnert sich der Beamte. „Aber eigentlich mußte man schon verrückt sein, wenn man so einen Fluchtversuch wagte.“ Man merkt dem Mann an, es ist nicht die Sorte von Geschichten, die man nur erzählt, weil man danach gefragt wird. Schicksale prägen.

Heute kann Heß den Reichstag nicht einmal mehr sehen. Seit dem Umbau residiert er in einem funktionalen Bürogebäude an den befahrenen Unter den Linden. Die Realität am Grenzstreifen war eine andere: Nur das Bellen der Hunde, die, von einem Drahtseil geführt, immer hin- und herliefen, war zu hören. Sonst herrschte „Totenstille“, nicht nur nachts, auch tagsüber. „Am Reichstag endete West-Berlin, wie sonst nirgendwo in dieser Stadt. Hier war Brache.“ Bis zu den nächsten Kiosken und Geschäften mußte man zwanzig Minuten zu Fuß gehen.

Jetzt füllt sich die Brache durch den neuen Lehrter Bahnhof, das Bundeskanzleramt und die Wohnungen für Abgeordnete, das Ostportal öffnet den Reichstag wieder zum Bezirk Mitte. Und während der von der Physiognomie her behäbige Beamte ein Bild entwirft, wie Empfänge und Abendessen der Parlamentarischen Gesellschaft im Reichstagspräsidentenpalais Treffpunkt für Politik, Diplomatie, Wirtschaft und Presse sein werden, sich die Landesvertretungen in Mitte ansiedeln und ihr Publikum finden werden, bemerkt man auch jetzt noch in seinen wachen Augen die Erwartung auf das große Abenteuer Politik in Berlin: „Die Ödnis, wo die Menschen um ihr Leben rannten, wird abgelöst von europäischer Politik“, und das, wo noch vor einem Jahrzehnt der „totale Frost“ herrschte, wo Grenzer, wenn Touristengruppen ihnen zuwinkten, sich sofort wegdrehten. Kein Kontakt, hieß die Ostdevise.

Doch Heß suchte den Kontakt. Zwar erst nach dem Fall der Mauer, aber dann gleich mit Westexport. Zusammen mit einem Vertreter von Coca-Cola trug er am 30. Dezember 1989 einen Kasten des Welterfolgs vom amerikanischen way of live zu den Grenzern in die DDR. „Wir waren natürlich offiziell angemeldet. Und so war alles recht förmlich. Es wurde eine steife Ansprache gehalten, so à la ,Herr Dr. Heß, wir danken Ihnen, daß Sie im Namen...‘“ Doch dann blieb man länger zusammen und traf sich immer wieder.

Für Heß war der Reichstag immer der Ort, wo die parlamentarische Demokratie ihr Zuhause haben soll. Von hier aus rief der Abgeordnete Philipp Scheidemann die Weimarer Republik aus, die „durch den Reichstagsbrand erstickt wurde. Schließlich wurde das Haus eins von vielen Opfern des Nationalsozialismus“, vergegenwärtigt er noch einmal deutsche Vergangenheit und fügt an, „nicht hier, sondern in der Kroll-Oper wurde das Ermächtigungsgesetz beschlossen. Das muß man immer bedenken“, sagt er, während er sich tief in den Sessel seiner braunen Büromöbelgruppe vergräbt und beim Sammeln seiner Gedanken in die Ferne guckt. Fast meint man zu sehen, wie die Bilder der Geschichte vor seinem geistigen Auge noch einmal ablaufen.

Die Geschichte Berlins ist auch seine, wenn er sich erinnert, wie sich von hier aus der Wille zur Freiheit durchsetzte und der damalige Bürgermeister Ernst Reuter angesichts der Blockade durch die Sowjetunion vor dem Reichstag die Worte ausrief: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt.“ Er selbst habe als Schüler, mit Rollschuhen bestückt, an den Zäunen des Tempelhofer Flughafens die an- und abfliegenden Maschinen der Berliner Luftbrücke beobachtet. „Ich liebe diesen Flughafen.“

Der Witwer und Vater zweier erwachsener Kinder hat immer versucht, den Reichstag in den Blickwinkel der Öffentlichkeit und Berlins zu rücken. Er war es, der in den achtziger Jahren Rockkonzerte mit Barclay James Harvest und Michael Jackson bei den verschiedenen Bundestagspräsidenten, seinen Chefs, durchsetzte, der dafür stritt, daß Christo nach dem Fall der Mauer den Reichstag verhüllen konnte. „Die Verhüllung hat die Menschen damals regelrecht verzaubert. Ich habe in Berlin noch nie so eine friedliche Stimmung erlebt“, erzählt er und bedauert, daß die Stadt nichts aus dem Ereignis gemacht hat. „Die haben die Chance nicht erkannt.“ So gerne Berlin Metropole wäre, so wenig füllt die Stadt bislang diese Rolle. Nicht Offenheit und Lust auf Veränderung kennzeichnen ihre Mentalität, sondern vielmehr das Beharren auf dem Bestehenden. Die Angst vor dem Neuen kennzeichnet diesen Beamten nicht. Im Gegenteil: „Die Bürger werden in einer richtigen Metropole leben. Und sie wird wieder eine Gegenwart und eine Zukunft haben. Wenn Berlin das schafft, dann hat die Stadt einen Quantensprung getan.“