■ Indien: Nach dem Sturz der Regierung stehen Wahlen vor der Tür
: Problemfall Demokratie

Das demokratische Wunderkind Indien – eine Demokratie von einer Milliarde armer Menschen, wie es gern heißt – nimmt seine Vorliebe für Wahlen allzu wörtlich. Soeben ist die dritte Regierung in drei Jahren gestürzt worden, selbstverständlich mit dem demokratischen Mittel einer Vertrauensabstimmung. Bereits steht auch der teure Luxus demokratischer Neuwahlen wieder vor der Tür. Kein Zweifel, Indiens Demokratie ist, in den Worten indischer Schönredner alive and kicking. Aber manchmal sieht es mehr nach krankhaften Zuckungen aus.

Dies gilt nicht nur für die Häufigkeit von Wahlen, die jedesmal neun Milliarden Rupien (360 Millionen Mark) kosten. Die Art und Weise, wie der jüngste Regierungssturz zustandekam, ist auch nicht eben erbaulich: Eine herrsch- und streitsüchtige Politikerin, mit einer charismatischen Aura gesegnet, inszeniert den Sturz, weil sie von Korruptionsklagen eingedeckt ist, die ihrer Karriere an den Kragen gehen könnten. Daß Politiker so rasch herbeilaufen, um ihr beizuspringen, hat zudem wenig mit Galanterie zu tun. Es ist ein offenes Geheimnis, daß bei solchen Seitensprüngen beträchtliche Summen die Hand wechseln.

Das eigentliche Problem ist aber nicht die Korruption, sondern die Demokratie. Sie hat eine Proliferation von Parteien – ethnischer, religiöser, regionaler, ideologischer Couleur – geschaffen, die ein Zeichen echter Mobilisierung ist.

Früher hatten einige wenige Politiker Kasten, Religionen, Regionen unter sich aufgeteilt. Heute hat jede religiöse, sprachliche, soziale, ethnische Minderheit ihre eigene Partei. Und jede versucht, im Interesse ihrer Gruppe natürlich, ihre paar Parlamentsstimmen möglichst teuer zu verkaufen. Es gibt Bundesländer in Indien mit hundert Kabinettsposten – um möglichst alle Interessenvertreter bei Laune zu halten. Empowerment für das Volk, aber vor allem für dessen Vertreter.

In dieser Fragmentierung von Sonderinteressen geht das nationale Interesse verloren. Statt sich mit dem Überleben des bitterarmen Landes zu befassen – jeder dritte Inder legt sich hungrig ins Bett, jeder zweite kann nicht lesen und schreiben – organisieren die Politiker ihr politisches Überleben. Dringende Gesetzesvorlagen warten seit vier Jahren auf einen Entscheid, nur weil sich eine Lobby dagegen sperrt. Das Kehrbild: Die Bürger wenden sich enttäuscht von der Politik ab. Und bereits melden sich Stimmen, die fragen, ob Indien reif sei für Demokratie. Bernard Imhasly