Indiens Regierung fehlt eine Stimme

Nach dem erfolgreichen Mißtrauensvotum gegen die Koalition von Premier Vajpayee macht sich nun Sonja Gandhi Hoffnungen auf das Amt der Regierungschefin  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Die indische Regierung ist am Samstag bei eine Vertrauensabstimmung an einer Zufallsmehrheit von nur einer einzigen Stimme gestrauchelt. Premierminister A.B. Vajpayee und seine Koalition erreichten 269 Stimmen, die vereinigte Opposition kam auf 270. Fünf Abgeordnete der Kastenlosen-Partei BSP stimmten gegen ihn, obwohl ihre Führerin Mayawati noch am Vortag in der Debatte hoch und heilig versichert hatte, ihre Partei werde sich der Stimme enthalten.

Für Vajpayee war es wiederum die Zahl dreizehn, die ihm Unglück brachte: Seine erste Regierung war 1996 nach dreizehn Tagen gestrauchelt. Diesmal kam die Niederlage auf den Tag genau nach dreizehn Monaten seiner Amtszeit.

Ausgelöst hatte die Krise J. Jayalalitha, die Vorsitzende der tamilischen Regionalpartei AIADMK. Mit ihrem Rückzug aus der 13-Parteien-Regierung hatte sie vor einer Woche den Stein ins Rollen gebracht. Als Grund hatte sie den Koalitionsstreit um die Wiedereinsetzung eines entlassenen Admirals genannt. Doch in der dreitägigen Debatte über das Vertrauensvotum wurde der Fall kaum erwähnt. Für die Öffentlichkeit ist dies ein erneuter Beweis dafür, daß persönliche und lokalpolitische Motive die Landeskrise verursacht hatten. Jayalalitha wird von einer Reihe von Korruptionsklagen bedroht, die die ihr feindlich gesinnte Provinzregierung in Tamil Nadu eingeleitet hat. Jayalalitha, die ihre 18 Abgeordnete an der kurzen Leine hält, hatte Vajpayee vergeblich gedrängt, den Lokalrivalen aus der Regierungsverantwortung zu entlassen.

Es obliegt einer dritten Frau, die von Jayalalitha ins Feuer geworfenen Kastanien herauszuholen. Sonia Gandhi, Witwe des ermordeten Premiers Radjiv Gandhi, ist als Präsidentin der Kongreß-Partei aufgerufen, eine neue Regierung zu bilden. Doch selbst die größte Oppositionspartei verfügt nur über 139 Sitze – wenig mehr als die Hälfte dessen, was für eine einfache Mehrheit von 272 nötig ist. Unter den 24 Kleinparteien, die ihr und Jayalalitha am Samstag geholfen hatten, die BJP zu stürzen, sind sich einige spinnefeind. Andere können die Kongreß-Partei beinahe ebensowenig ausstehen wie die BJP. Gandhi, die eingeheiratete Italienerin, hatte sich erst vor einem Jahr an die Spitze der ältesten Partei Indiens wählen lassen. Sie hatte zuerst den angeschlagenen Kongreß reformieren wollen, bevor die Partei sich wieder den Wählern präsentierte. Doch Wahlerfolge in mehreren Bundesstaaten Ende letzten Jahres nährten unter den Politikern die Meinung, interne Demokratie könne warten. Die Aussicht auf die Macht war zu verlockend.

Gandhi muß nun versuchen, eine Mehrheit zusammenzubasteln. Staatspräsident K. R. Narayanan hat zu entscheiden, ob er einer neuen und zweifellos brüchigen Koalition unter ihrer Führung eine Chance geben will, oder ob er die BJP-Koalition als Minderheitsregierung weitermachen lassen soll. Die dritte Möglichkeit ist die Ausrufung von Neuwahlen, welche klare Verhältnisse schaffen könnte. Aber für die meisten Beobachter ist dies nicht mehr als ein frommer Wunsch. Alle drei Parlamentswahlen in ebenso vielen Jahren führte zu einer noch stärkeren Fragmentierung.

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